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Amras

Titel: Amras
Autoren: Thomas Bernhard
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zuzustechen … und so berührte er es die ganze Zeit, die er im Turm war, bis zu seinem Tod, nicht … ein krankhafter Zug war um seinen Mund, wenn ich das Augsburger Messer mit raschem Griff von der Wand nahm … jeden meiner Schnitte verfolgte Walter mit großer,mich nachdenklich machender Aufmerksamkeit: wie er ›Das Messer ist frisch geschliffen‹ sich mir gegenüber zu sagen getraute, war aufschlußreich, gab mir zu denken; wie er es immer umging, wie er sich fürchtete, es länger als ihm, wie er sagte, ›zuträglich‹ anzuschauen; er schaute es nicht so an, wie ein Mensch ein Messer anschaut … was auch immer er in bezug auf das Augsburger Messer sagte, gab mir zu denken, aber alles von Walter im Turm Gesagte hat mir zu denken gegeben … es brachte mich auf die finstersten Geschwistergedanken … Schon als Kind hatte ich das Augsburger Messer auf seinem Platz in der Schwarzen Küche gesehen; immer war es zum Rauchfleisch- und Brotschneiden da gewesen: merkwürdig, Walter, bin ich erinnert, hat sich schon als Kind geweigert, es anzurühren, wenn wir in den Turm gekommen waren, zu Ostern, Pfingsten, Dreikönig … an Spätsommertagen, von Millionen von honigsuchenden Bienen gejagt, im Turm Schutz suchend vor den Mücken … auf denselben Strohsäcken, auf welchen wir jetzt unser Lager hatten, versunken … Zuflucht suchend und Zuflucht findend vor der mit uns Unzucht treibenden erbosten Natur … Das Augsburger Messer oder das Messer der Philippine Welser: mein Onkel verstand nicht, warum sich mein Bruder vor ihm, das das schärfste war, fortwährend fürchtete; er wollte es ihm einmal aufzwingen, es ihm mit Erwachsenenschnelle in die Hand pressen, doch war mein Walter davor zurückgesprungen … das Messer zu Boden geschnellt, ich erinnere mich genau: ich war in dem Augenblick, in welchem es auf dem Boden lag, von seinem Glitzern und Funkeln ergriffen gewesen … Dieses Vorfalls erinnerte ich mich sogleich bei dem neuerlichen Anblick des Messers … ich machte Walter schon gleich am ersten Tag im Turm von mir aus den Vorschlag, es ihm zu ersparen , es von der Wand herunterzunehmen … ich wollte es unserem Onkel geben, damit er es mitnehme … aber das wollte mein Bruder nicht … Bei geschlossenen Fensterläden täuschte es uns einen ›türkischen‹Mond vor … In Walter muß der Anblick des Augsburger Messers, des Messers der Philippine Welser, zum Unterschied von mir, in welchem es nichts als den Genuß einer ungewöhnlichen Schärfe und hohen Kunst hervorrief, der Schönheit der Elemente entsteigende Phantasien, doch nur Irritierendes, ihn Erschreckendes, unglaublich Erschreckendes ausgelöst haben, ein fürchterliches Entsetzen …
    Vor allem beschäftigte uns im Turm unsere Kindheit, die wir mit der Katastrophe verloren hatten … sie lag für uns hinter einem finsteren Wald von Enttäuschungen, durch den es keinen Rückweg mehr gab … in unseren Träumen atmeten wir ihre Luft ein, hörten wir ihre Bachgerinnsel … da waren sie, die naiven Gedankenschwünge, Arabesken an der furchteinflößenden Außenfassade des Lebens … uns selbst überlassen, war unsere Kindheit von unseren Eltern durch ihr Wissen und Fühlen unscheinbar folgerichtig für uns gelenkt worden … später von ärztlichen Vorschreibekünsten, väterlichen wie mütterlichen Verzweiflungen … eine traurige Verwahrlosung alles dessen, worin wir uns zaghaft entwickeln durften, verdunkelte unser letztes gemeinsames Familienjahrzehnt … um uns und in uns und mit uns zerbröckelte alles, wir konnten es an den Menschen, an den Häusern wie in Gedanken sehen … anschauen an den von ihren Besitzern schon abgewandten Gebäuden … Das Gras war bald nicht mehr so frisch, das Getreide nicht mehr so hoch, die Bücher waren auf einmal nicht mehr ganz so unüberwindlich gewesen … immer weniger oft waren wir aufs Land, immer weniger oft nach Italien, nach München gefahren, kaum mehr zu Verwandten … nicht mehr an den See … alles mußte verfallen … Viele Monate nacheinander waren wir in der Herrengasse verurteilt zu einem mehr und mehr grauen Gemütsleben, das unsere Studien verbitterte … die Epilepsie verfinsterte uns.
    An Hollhof
    Geehrter Herr, unsere nur fünfeinhalb Monate dauernden Hochschulstudien waren ein unser Gemüt gleicherweise willkürlich wie radikal unterdrückendes Durchqueren der Leopold-Franzens-Universität und ihrer Institute am Botanischen Garten gewesen, der tägliche Gang durch ein rundes Jahrtausend unserer
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