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Amras

Titel: Amras
Autoren: Thomas Bernhard
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faulen Wissenschaftswelt … schon das Aufwachen in unserem Elternhaus war uns nichts als Qual gewesen, denn es war in Wirklichkeit ein Aufwachen schon in den hohen und grauen und antwortlosen Gerichtssälen dumpfer Lehrpläne, Weltanschauungen, staubiger Theorien und Philosophien, ein Aufwachen in den stinkenden Laboratorien und Hörsälen unserer düsteren Landeshauptstadt … In diesen Monaten hatten wir uns rasch im Auswendiglernen deprimierender Umgangsformen des Pseudogeistes erschöpft, in den ekelerregenden Unterdelirien des Hochschulwesens … Wir konnten die Quellen für unsere Musik und für unsere Naturwissenschaft nicht auf dem staatlichen Boden finden, sondern nur in uns selbst … Das sogenannte Schulische wie auch das sogenannte Höhere Schulische war uns ja immer verhaßt gewesen, auch unserem Vater verhaßt gewesen … Mit dem uns vom Staat anbefohlenen, alles Feinere in unseren zur Grobheit ja gar nicht befähigten jungen Gehirnen zerstörenden tagtäglichen Hinuntertrinken des die ganze Welt verseuchenden dicken Gelehrtengiftes, hatten wir unsere Anlagen bald überfordert … Unsere Universitätszeit war wahrscheinlich unsere schlimmste Zeit, kaum eine Lebenszeit … denken Sie nur an das wochenlange Durchpflügen und Durcheggen riesiger, von unseren eigenen Professoren verfaßten Schriften und Bücher, in deren üblem Geruch uns das Hören wie Sehen verging … aus dem uns anbefohlenen Unterstreichen von die ganze erbänderungs-philosophische Maschinerie zerstörenden Sätzen bestand diese Schulzeit für mich … doch waren wir beide immer an unsere von uns selber erfundenen Wissenschaftsbrückenträger geklammert… Mit Walter war es, was das Schulische, Höhere Schulische betrifft, nicht anders gewesen … einen ganzen Winter lang hatte ich nur mit dem ›Primärvorgang‹, mit der ›akzessorischen Substanz, die, in Transportform des Chromosoms in erster Linie als sogenannte Hüllsubstanz (Matrix) erscheint‹, zubringen müssen … und so existieren müssen … unerhört exakt existieren müssen … Walter in seiner Zwölftontechnik … sobald wir uns aber, einer glorreichen Eingebung Folge leistend, ganz unbekümmert von Hoher Schule und Hohem Schulzwang, allein mit dem uns angeborenen Scharfsinn, auf einmal in Urgestein und in Familie, mit der Vorliebe für das Ausleuchten aller Ritzen unseres finsteren Denkgebäudes mit der Natur gemeinsam in unseren beiden uns verführenden Wissenschaften verändern ließen, ja, auf und davon flogen in hohe, ja höchste Regionen, waren wir über die Berge … Die Wochentage unserer Universitätszeit waren ein trauriges Beispiel für die den Lähmungsgesetzen der Unterrichtswelt unterworfenen Hochschulmartyrien, denen wir nicht ein einziges Mal entschlüpfen konnten … Unsere Universitätszeit war so eintönig gewesen wie ihre Methoden, die uns, die wir in allem und jedem das Schöpferische zu lieben und zu erhalten gewohnt waren, zerstören, vernichten mußten … Aber auch der Sonntage unserer Universitätszeit erinnere ich mich nicht gern, auch in ihnen herrschten, vergeblich von uns zurückgedrängt, ihre Wochentage … wie eine Todeskrankheit beherrschte sie uns … In der Unfähigkeit, unser Wochentagsmartyrium an den Sonntagen auszuschalten, unterschieden wir uns in nichts von den andern … anstatt die falschen, die dicken falschen Schriften zu fliehen, vertieften wir uns am Sonntag in sie … nur kurz vor dem Einschlafen, das uns, je älter wir wurden, immer seltener automatisch gelang, auch schon in unserer frühen Kindheit nicht mehr immer automatisch gelungen war, hatten wir beide manchmal die Kraft für einen Spaziergang im Garten, den Inn entlang, durch die Stadt … Wir kannten nie dasathletische Luftschöpfen der meisten Studenten, Hochschüler, jungen Menschen … wir liebten die scharfe Luft an den Ufern des Inn, die nächtlichen langen Friedhofsbesuche … auf dem Friedhof beim Anatomischen Institut, auf dem Friedhof in Mühlau … immer waren wir, mit der Zeit, weil von Tag zu Tag, wegen Walters Erkrankung, noch enger zusammen, oft schon auf unerträgliche Weise Körper an Körper gefesselt … Walters Epilepsie beherrschte uns … Kein Schritt ohne Walter … kein Gedanke mehr ohne Walter … ich bin sein Bruder gewesen, sehr konsequent gewesen, wenn ein Mensch weiß, was das heißt, bis in die finstersten Winkel seines ihn tötenden Kopfes hinein … Jahrelang war ich nicht mehr allein … die Universitätszeit eine furchtbare Strafe
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