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Amras

Titel: Amras
Autoren: Thomas Bernhard
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hatten, beantworteten wir wie folgt:
    Geehrter Herr,
    der Zeitpunkt, in welchem wir Ihnen etwas über die Umstände, die zum Tode unserer Eltern geführt haben, mitteilen können, wie Sie uns auffordern, Ihnen eine Beschreibung vor allem der Zeit zwischen dem Entschluß unserer Eltern (und uns) zum Selbstmord und der Ausführung ihres Selbstmords, was uns betrifft, über unsere ›Einübung in den Selbstmord‹, zu geben, ist noch nicht gekommen; wir wünschen im Augenblick nichts, als in Ruhe gelassen zu sein.
    Für Ihre Anteilnahme unseren Dank.
    K. M. W. M.
    Einen zweiten Antwortbrief schickten wir am gleichen Tag noch nach Kufstein:
    Sehr geehrte gnädige Frau, sämtliche Ansprüche Ihrerseits, die Geschäfte unseres Vaters betreffend, sind an unserenOnkel, den Bruder unserer Mutter , der Ihnen bekannt ist, zu stellen.
    Hochachtungsvoll
    K. M. W. M.
    Ermuntert nur durch die Aufmerksamkeit unseres Onkels, der uns wöchentlich zweimal, jeden Dienstag und Samstag – öfter, an anderen Tagen, erlaubte es seine Wirtschaft nicht – aufsuchte, immer in guter Laune, schien uns, immer mit Zeitungen, Nachrichten, Neuigkeiten, die uns aber doch nur erschütterten, existierten wir plötzlich, allein auf unsere fürchterlichen, von jeher verletzten, wachsamen, ausdauerarmen Charaktere angewiesen, in einer sich immer mehr gegen uns verschwörenden, selbst unsere Geh- und Sitz- und Liege- und Stehfähigkeit, naturgemäß unsere Denk- wie auch Sprechfähigkeit, unsere allgemeine Vernunftfähigkeit irritierenden Finsternis des für uns nicht jahr hunderte- , sondern jahr tausende alten Turms.
    Auch in ihm empfing Walter, wie schon sein ganzes Leben lang, regelmäßig die für ihn wichtigen, teuren Besuche des Internisten, eines in ganz Tirol berühmten und berüchtigten Epileptikerarztes, eines brutalen, übergesunden vierzigjährigen Mannes, der, wohl medizinisch durch frühen Eifer und spätere Schläue wie niemand gebildet, uns immer verhaßt gewesen, auch schon unsere Mutter behandelt hatte … Nachdem wir im Turm soviel wie ganz aus der Welt und von unseren Eltern und ihrer behutsamen Wirksamkeit plötzlich verlassen waren, hatte sich, wie in Schüben und Stufen durchschaubar, Walters Krankheit, eine ihn von Geburt an immer nur noch verdrießende, anfänglich nur sein Gemüt, aber später auch seinen Verstand immer gründlicher untergrabende, gegen ihn, wie es schien, mit logischer Grausamkeit heimtückisch wie auch offen vorgehende, noch heute vollkommen unerforschte, mit großer Geschwindigkeit periodisch gewaltsam verschlimmert und in der Folge auch unser gegenseitiges, auf geschwisterlichesZutrauen wie auf geschwisterliche Über vorsicht gegründetes Verhältnis zueinander bis an die Grenzen unserer Möglichkeiten verschärft … Wir mußten aber zusammenhalten, und so ertrugen wir uns …
    Wir hatten beide sofort nach dem Ende unserer von den Tabletten hervorgerufenen und von zwei Innsbrucker praktischen Ärzten mit, wie sich denken läßt, großer Feierlichkeit entgifteten Ohnmacht, in der Gewißheit, wieder und gegen unseren Willen, also um so entsetzlicher existieren zu müssen, befürchtet, daß die Anfälle Walters, ihm angeborene, von der Mutterseite ererbte, von seiner Exostose begünstigte, ihn von Zeit zu Zeit blitzartig mißbrauchende, in den letzten Monaten ganz zum Stillstand gekommene, jetzt im Turm, unter dem Überdruck des uns Zugestoßenen, wieder auftreten könnten … und tatsächlich traten sie (die infolge seiner wissenschaftlichen Daueranstrengung von ihm hinausgeschobenen) schon nach den ersten Schritten im Turm wieder auf … Mein Bruder war, ein Jahr jünger, viel feiner als ich konstruiert, einem eher phantastischen Nervensystem unterworfen, seine Konstitution immer eine automatisch geschwächtere gewesen … sein ganzes Leben lang hatte er vor den Anfällen seiner Mutter Angst gehabt, diese Angst hatte er sich im Turm vergrößert … nachdem er tagelang neben mir, immer schweigend und wie ich nahrungslos, auf sich selbst geschaut hatte, war, als er plötzlich, aufstehend, mich zu Hilfe nehmend, zum Fenster wollte, wenn auch anfangs nur kurz, als eine sogenannte Momentaphasie ohne geringste Bewußtlosigkeit, die Epilepsie wieder über ihn hergefallen … In der Finsternis hatte ich, der Vehemenz der Erkrankung gehorchend, nicht gesehen, wie sein Gesicht, wie seine Augen vor allem sich durch die Erkrankung verändert hatten, doch an dem Handgelenk, an dem ich ihn festhielt, ihn führend, hatte
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