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Amras

Titel: Amras
Autoren: Thomas Bernhard
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Garten, zu jeder Tageszeit, oft in der Nacht, immer wieder … jedesmal aber das gleiche ›Es ist nichts …‹, es wiederholte sich täglich in immer kürzerem Abstand, daß er vom Strohsack aufsprang und an das Fenster stürzte … dann sein Schweigen wie in fürchterlicher Ergebenheit … Unsere Kindheit, die wohl am innigsten mit unseren Eltern zusammenhing, gerade weil wir von ihnen ja niemals schockiert worden, nur immer uns selbst überlassen gewesen waren, nicht ohne ihre Erziehung, eine sehr freie und dadurch strenge Erziehung … war uns in diesen Wochen so gegenwärtig wie niemals vorher … selbst verrückt, war sie unserer Verrücktheit ein Trost … Oft saßen wir uns, von uns abgewandt, in unserer katastrophalen Körper- und Geistesverfassung, nach langen Perioden der Erschütterung unserer Gehirne, gegenüber, als plötzlich mein Walter zum Fenster sprang, von einem Rufen erschrocken … das, von einem bestimmten Zeitpunkt an auch ich hörte … aber im Garten war niemals auch nur eine Andeutung eines uns rufenden Menschen … wir hörten es aber viele Wochen lang immer gleichzeitig rufen … ganz deutlich die Rufstimmen unserer Eltern.

B ÖDEN UND M AUERN
    Durch die Böden und Mauern waren wir auf das engste mit der gesamten Natur, und zwar doppelt verstandesmäßig mit der gesamten Natur verbunden, nicht nur durch die Luft … wir horchten stundenlang an den entferntesten Ufern … wir hörten das Gemisch aller möglichen Sprachen,das Gemisch und Gedröhn aller Laute erfüllte unsere Kopfhöhlen, die zeitweise ganz ohne Fleisch, ohne Blut waren … in einem bestimmten Verhältnis unserer Schläfenknochen zum Erdmittelpunkt, den wir uns für uns und für alles bestimmen konnten, waren wir eingeweiht in die Schöpfungsvorgänge, in die Willensstärke der ganzen Materie … Wir waren uns dann unser selbst als zweier doppelter Spiegelbilder des Universums bewußt … Himmelserscheinungen, Höllenreflexe … In Meeren und Wüsten zugleich die Erschütterung der Atmosphären … oft waren wir wirklich so hoch in der Sternbildanschauung, daß uns fröstelte, selbst Wasser, Gestein … im Vorteil der Sterblichkeit, wenn wir horchten und dadurch begriffen … wir fühlten und wir begriffen … wir schauten, nicht mehr auf Vermutungen angewiesen, auf die Berechnungen klaren Menschenverstandes … in wie feiner, nicht kopfzerbrechender Schweigsamkeit konnten wir uns in solchen Augenblicken verständigen, uns erneuern … Wir hüteten uns davor, das Gesehene anzusprechen … Das Phantastische enthüllte uns alles sekundenlang nur, um es wieder für sich zu verfinstern … die höchsten Augenblicke waren naturgemäß immer die kürzesten, überhaupt allerkürzeste Augenblicke … Unsere Schläfen an Böden und Mauern gedrückt, beobachteten wir die Drehung von Millionen von Lichtjahren, weit entfernt … konische Kreisel, kugelförmige Himmelskörper, die präzise Gelenkigkeit der Mathematik …
    Wir staunten darüber, daß wir noch lebten … noch existierten, uns wieder zu existieren getrauten, nicht mit unseren Eltern fort, aus der Welt geschafft waren … noch immer nicht in Verwandlung begriffen … Wir waren bereit gewesen, zu sterben … wir hatten ganz auf das Urteil unserer Eltern vertraut, unserem Vater gehorcht … Wir waren uns in unserem Tod schon sicher gewesen … wir hatten nicht sterben dürfen … Eingeweiht in das Selbstmordkomplott, waren wir in den letzten Wochen zu Hausein Wirklichkeit ja schon befreit gewesen in dem Bewußtsein, zu sterben, sterben zu dürfen, die Aussicht, bald tot zu sein, hatte uns beide beschwichtigt … Wohl hatte das schwüle Wetter unseren Entschluß herbeigeführt, uns keine Verzögerung mehr gelassen, die Entscheidung aber war schon vor dem Heiligen Abend gefallen … Unser aller Leben war durch die Todeskrankheiten der Mutter und des Bruders unerträglich geworden, wenn ein Mensch weiß, was solche Krankheiten ständig verursachen … die nicht mehr zu heilen sind … Und Walters Todeskrankheit, die doppelte Todeskrankheit, die Todeskrankheit der Mutter und seine Todeskrankheit zusammen … und die dadurch heruntergekommenen Geschäfte des Vaters … dieses uns alle beschämende Aufsehenmachen … dieser uns alle beschämende Gerichtsgesprächsstoff … die große, die schöne Wirtschaft in Lans, die Hölzer in Aldrans, der Weinbau, das Sägewerk und der Kukuruzanbau in Fulpmes waren auf einmal, wir waren noch Kinder gewesen, verwahrlost, verpachtet, verloren
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