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Amras

Titel: Amras
Autoren: Thomas Bernhard
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im ganzen Inntal gesprochen wurde, gesprochen wird, denn unser Onkel berichtet uns immer darüber … Wie ungeheuerlich das nur auf Schadenfreude und auf gemeinnachbarliche Spekulationen Gegründete,das entsetzliche Gerüchtmaterial in die zersetzungslüsternen Innsbrucker Gassen einfließt, in seine Straßen und Plätze, was in Geschäften und Gasthäusern und auf den Märkten in diesen Tagen und Wochen, da wir doch beide in ganz Tirol wohlbekannt sind, schon durch Jahrhunderte wohlbekannt sind … von Mund zu Mund, von Gehirn zu Gehirn geht … Wie hätten wir, wären wir nicht von unserem Onkel nach Amras in den Turm gebracht worden, in Innsbruck und unter den Menschen zu leiden gehabt, und wie hätten wir dort zu leiden … und auch im Irrenhaus, unter den dort noch immer herrschenden Zuständen … Schon am ersten Turmtag, an dem Tag, an welchem wir aufgewacht waren, vermutete Walter, sei unser Innsbrucker Haushalt aufgelöst worden: durch die Herrengasse führen ununterbrochen Wagen mit unserem schönen Besitztum davon, schwerbeladene Wagen … er sehe sie einmal von links und einmal von rechts … er sehe ununterbrochen das ›Fürchterliche, Unabwendliche …‹ Die Verhaltensweise unseres Onkels deute auch darauf hin … Unser Onkel besucht uns Dienstag und Samstag in Begleitung des Internisten, der Walter immer mehr Medikamente verabreicht … gegen die Anfälle spritzt er ihm eine ganz neue Chemie ein … immer kommt er mit immer größeren Schachteln, die alle so kompliziert aufzumachen sind … Unser Onkel klärt uns über das in der Innsbrucker Herrengasse Vollzogene, sich schmerzhaft Vollziehende auf … doch hat es länger als eine Woche gedauert, bis unser Elternhaushalt, in dem Sie oft wochenlang unser Gast gewesen sind, die uns im Laufe der Jahre verbliebene Urzelle unseres Familienbesitzes, praktisch nicht mehr existierte … Wir hörten von Tag zu Tag von uns lieben Gegenständen, die forttransportiert worden waren, von Möbelstücken, von Bildern und Büchern, von Spiegeln, Geschirr und Wäsche. Wir hörten, daß alles, woran unsere Kindheit behutsam geheftet war, mit der Schnelligkeit der neuen offiziellen Besitzergreifer in alle Winde zerstreut, inalle Himmelsrichtungen uns in großen und kleinen Wagen, wie Walter es sich vorstellte, entführt worden ist … Wir hören jetzt nur noch von Rechtsanwälten und Leichenbestattern, von Friedhofsverwaltern, Steinmetzen, Totenscheinen … von kirchlicher und weltlicher Infamie, von entlassenen Dienstboten, von der tirolischen Engstirnigkeit … von den Praktiken Hunderter Gläubiger, Innsbrucker Journalistenkletten … Wir hätten im Juni auch noch ein Gerichtsverfahren gegen uns zu erwarten, verschiedene Zweideutigkeiten hätten der Tiroler Justiz zu denken gegeben: unsere Eltern seien nicht in , sondern neben ihren Betten, nämlich auf dem Boden, gefunden worden … Walter und ich, aneinandergedrückt, in Walters Bett … Unser Entdecker ist der Imster Geschäftsmann Lugger … Unser Onkel hat alles für uns zum besten gelenkt: Vorsprachen, Abbitten, tausenderlei Erklärungen … Landtags- und Bischofsbesuche … Bürgermeisterbesuche … Gerichtsbesuche … die plötzliche ungeheuere Korrespondenz … die Ärztekonsultationen … Zu unserem Vormund bestimmt, war er darauf bedacht gewesen, uns in Amras vor jeder Beschädigung durch die Außenwelt zu bewahren … Wir sind glücklich über das von ihm für uns Gerettete, wenn es auch wenig uns Gehörendes ist … die Liquidation ist zu schnell gekommen, die Geschwindigkeit der Gläubiger hat uns doch vor den Kopf gestoßen … Selbst von unseren Fahrrädern, Geburtstagsgeschenken unseres Onkels, haben wir uns, laut Gerichtsbeschluß, trennen müssen, denn niemand im ganzen Inntal ist so verschuldet gewesen wie unser Vater …
    Gründlich, so, daß es uns weitergebracht hätte, getrauten wir uns über unser Schicksal nicht nachzudenken, geschweige denn, uns die Ursachen klarzumachen … Wir vermieden die uns verletzenden Wörter, Begriffe … doch es gelang uns nicht, uns auch nur zeitweilig schmerzfrei zu machen, uns war immer wieder der unerträglichste allerSchmerzen verursacht: die Erinnerung an die Eltern … Walter ging oft zum Fenster und schaute hinaus und sagte: ›Es ist nichts!‹, obwohl für ihn doch draußen, unter dem Turmfenster, etwas gewesen war, ein Geräusch, eine Stimme … eine Stimme hatte ihn ja zum Fenster gezogen … die Stimme unserer Mutter, die Schritte unserer Eltern im
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