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Amras

Titel: Amras
Autoren: Thomas Bernhard
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gelenkt, immer wieder die Tische und Sessel und Bänke und Kasten im Turm … einmal bohrten wir unsere Körper unter die Apfelhaufen, unter die Birnenberge, hinein in das Modrige, Faule … als wünschten wir in solcher Art Sinnenverkrüppelung langsam zu ersticken … Oft fügten wir uns an den Körpern, dann, wenn wir glaubten, wenn wir fühlten, wenn wir wußten, daß unsere Seelen, ja unsere Gehirne schon schmerzunempfindlich geworden waren, in hoher Erregung da und dort, an der Brust, auf dem Rücken, auf den Schenkeln und an den Kniegelenken, auch auf den Handflächen und an den Hinterköpfen, nicht gegenseitig, sondern jeder für sich, geschwisterlich, ausgeliefert der Schnelligkeit unserer der frühesten Frühlingsnatur entsprungenen Handlungsweise, Verletzungenzu … kontrapunktisch schlugen wir, in immer stärkerer Rhythmisierung, unsere Köpfe an alle vier Wände … mutwillig unter beschwörendem Lachen zerfetzten wir oft in der Finsternis, von Gerüchen und also Geschwüren geleitet, an nichts als an Luft, an das teuflische Oxygenische angeklammert, vor Lust unsere Kleider, unsere Hosen und Hemden … jeder für sich waren wir der zerstörende Mittelpunkt aller Zerstörung … krankhaft in unseren Gegensätzen … wir erschöpften uns rasch in unseren Exaltationen … In letzter Zeit hatten wir immer unsere Strohsäcke umgedreht, uns am faulen Geruch ihrer Eingeweide berauschend … beide entdeckten wir in solchen vom Föhn ausgelösten Zuständen in uns, in solchen Gelegenheiten, die wir auf Absprache, aber wortlos herbeiführten, eine primitive Gelenkigkeit, Katzenhaftigkeit an uns … Wir rächten uns! … Wir rächten uns gründlich an unseren eigenen Körper- und Geistesgebrechen … Es dauerte meistens Stunden, bis wir uns nach solchen Zuständen, wie von mir angedeutet, aus Hunderten solchen im Dunkeln bleibenden, wieder befreien konnten … Im Turm war es, wegen der Nähe des Sillflusses, kalt, trotzdem standen wir oft nach dem Nachtmahl, solange wir es ertragen konnten, völlig nackt, Körper an Körper, in für uns schon lange nicht mehr wunderwirkender zarter Berührung an die vor Feuchtigkeit blitzenden Mauern gelehnt, in einer Art unerfüllbaren, unsere Köpfe beschwerenden pubertären Erfrischungsmanier … Walters Haut, fleckenlos, krank, in Verlegenheit, schimmerte, wo der Lichtschein der Sill in einem beinahe spitzen Winkel, gebrochen durch einen schmalen, vom linken Fensterladen hervorgerufenen Schatten hereinfiel, am schönsten … ängstlich, ja furchtsam waren wir schweigsam in solchen Augenblicken, die, aus der frühesten Kindheit, sich von uns noch immer vertiefen und sorgsam verfeinern ließen … jetzt irritierten sie uns, immer schmerzhafter, immer unerlaubter … immer noch mehr waren wir hier im Turm auf Vermutungen angewiesen inunserem hochentwickelten Spähertum … Exzesse betrieben wir, uns gelang keine Unterhaltung.
    Meine Erklärung des Chromonema zum Beispiel, der Endomitose, der Isotope und Mitochondrien, des Nucleolus, des Pleiotrops, die meinen Walter immer erstaunt, ihm Vergnügen bereitet hatte, denn ihm waren in seinem mir lieben Verhältnis zur Anschauung einer ihm ›spanischen‹ Wissenschaft Correns und Mendels Formeln und Theorien nur Poesie gewesen, zerbröckelten mir auf der Zunge … ebenso lösten Walters Rezitationen der Verse Baudelaires und Novalis’ oder auch nur der naivste Versuch einer Annäherung an die ›Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab‹ in uns nur Entsetzen aus, denn sie endeten jedesmal kläglich schon in den Ansätzen; unsere Sprechweise war, vor allem die Walters, die ich, weil ich sie nicht aus mir selber zu hören gezwungen war, am allergenauesten beurteilen konnte, früher, in unserem Elternhaus jedenfalls, immer offen, unsere Kindheit und Gymnasialzeit entlang bis zur Katastrophe von ihrem schönen Rhythmus erfüllt, immer Aufschwung für Vieles, für Alles gewesen, auf einmal knechtisch abgewürgt, getreten, in Bruchstücken panisch.
    An Hollhof
    Geehrter Herr, wir konstatieren eine seltsame Übereinstimmung unserer, wenn auch jetzt im Turm nur noch chaotischen Denkvorgänge: wir billigen die Handlungsweise unserer Eltern, wir verurteilen sie, zum Unterschied von der Öffentlichkeit, zum Unterschied von den Innsbrucker Zeitungen, Gerichtsmenschen, nicht … Wir wissen, was die Zeitungen schrieben und was sie schreiben, denn wir lesen sie; was in Innsbruck und was in Wilten und Amras, in Hall und in Kufstein, in Wörgl,
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