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Amras

Titel: Amras
Autoren: Thomas Bernhard
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ich, während er stürzte, seinen Zustand gefühlt … Wir befürchteten eine katastrophale Verschlimmerung seinerEpilepsie … Wir hatten unser ganzes an unsere Eltern wie an zwei Pfähle gebundenes Leben in ständiger Angst vor der uns immer unheimlichen, auch an unserer Mutter unheimlichen ›Tiroler Epilepsie‹ verbringen müssen … diese Krankheit hatte uns alle, von einem gar nicht mehr eruierbaren Zeitpunkt an, zerstört, diese nur in Tirol bekannte Epilepsie … Unsere Mutter war merkwürdig spät, in ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr, kurz vor Walters Geburt, plötzlich von ihr befallen worden, von einem Augenblick auf den andern, nachweisbar auf dem Höhepunkt eines Tanzfestes in einem Wiltener Herrenhaus … und hatte sich sofort, auf ihre Umwelt sogleich erschütternde Weise, verändert … Walter war wohl aus seiner kindlichen Über furcht schon rasch von ihr aufgestört und zersetzt worden … ich selber, verhängnisvoll furchtlos als Kind, von ihr niemals auch nur im geringsten gestreift … Es schien, als hätte diese jederzeit überall in Tirol entstehende Krankheit sich nach dem Tod unserer Mutter zur Gänze auf Walter geworfen … Jetzt im Turm, und zwar mit den Tagen immer noch rücksichtsloser, trat sie, so wie ich sie von der Mutter her kannte, durch alles, so schien mir, gedeckt, durch die Turmatmosphäre begünstigt, an ihm wieder auf, gemeiner als vor dem Tod unserer Eltern … Auf mich erschreckende Weise beobachtete ich, wie er, Walter, von Tag zu Tag auch physiognomisch, in seiner Schweigsamkeit, Hautfarbe, Stimmgebung, seelische Reaktionen, Körperfunktionen betreffend, unserer Mutter immer noch ähnlicher wurde … Die Schlaflosigkeit, von welcher wir beide aus einem uns durchsichtigen physikalischen rohen Gesetz heraus, im Turm einem uns wildfremden Luftrhythmus untergeordnet, urplötzlich für einen von uns nun nicht mehr überblickbaren Zeitraum befallen worden waren, verhinderte, daß wir uns, auch nur für Augenblicke, beruhigten …
    Nur selten getrauten wir uns an die Fenster und drängten die Läden zurück: wir schauten, betrogen, kam uns imSturmgeheul vor, auf die wahllos verkrüppelten Apfelbäume, in eine vor lauter Finsternis und Naturrätsel und Verstandeserschütterung taube, wie uns schien, merkwürdig laute und wie nur anscheinend, weit unten, am Ende des Apfelgartens, wo der Zirkus war, von Menschen bevölkerte, widerspenstige, von ihrer Verschrobenheit nur an der schwarzen und braunen und dort und da weißen Oberfläche gereizten, vorstädtisch jederzeit nur in strafbaren Handlungen existierenden, verdrußerzeugenden Hochgebirgslandschaft … Was wir hörten, waren die klaren Gerinnsel einer ununterbrochenen, sterbensmüden Chemie, was wir sahen, war Tag und Nacht nichts als Nacht … brausende, ohrenbetäubende Finsternis … Wir waren in der Beobachtung alles Scheiternden stets und von jeher geschult, doch fühlten wir hier im Turm, verstört, von der ganzen Natur ins Vertrauen gezogen, auf einmal die Weisheit der Fäulnis … Durch nichts als durch uns von uns abgelenkt, erblickten wir uns in Amras in unserem brodelnden, dann wieder starren Geschwisterzusammenhang … immer wieder die Frage stellend: warum wir noch leben müssen … und waren die ganze Zeit ohne Antwort – kein hellsichtig machendes Echo jemals, immer Rückschläge wie Gehirnschläge! – in einer sich stündlich in uns und um uns noch mehr und, ja, wenn auch menschenwürdig, zusammenziehenden doppelgehirnigen Einsamkeit hilflos voneinander abhängig, selbst in den allererbärmlichsten Handlungen und Verrichtungen … auch nach Tagen, nach Wochen nicht, getrauten wir uns miteinander über die Katastrophe zu reden; wir hielten uns, tierisch gemeinsam, noch unterhalb jeglicher Mystifizierung, nur ans Organische … in Absterbensmöglichkeiten verunglückte alles in uns, in die tiefsten Naturenergien … Im Gestöhn seines Halbschlafes erhörte ich, wie sich mein Walter oft schwer in die föhnige Selbstmordnacht heimphantasierte, vom Turm in die Herrengasse hinunter, in die unserem Selbstmord und unseren Selbstmordversuchen vorausgegangenen Tage, in dasMärzliche, Schwüle, das nicht einmal einen einzigen Augenblick für uns gewesen war, immer nur gegen uns ; immer noch feierlicher, zum Tod aufgelegter: Den ganzen Nachmittag des uns allen auf einmal so günstig erscheinenden Dritten hatten wir nur noch darauf gewartet, daß es, wie uns zu Willen, bald finster sei, aus sei, daß mit dem Tageslicht
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