Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise
Autoren: Ulrich Woelk
Vom Netzwerk:
Nebengehege der Gesellschaft zu sein. Tatsächlich war es aber nicht diese Sonderrolle,
     die sie veranlaßte, sich aus der Forschung zurückzuziehen, sondern sie zweifelte, ob es sinnvoll war, sich mit nicht ganzzahligen
     Dimensionen zu beschäftigen. Kam hinzu, daß die Forschungsergebnisse, die sie zu präsentieren hatte, dünn waren, um nicht
     zu sagen marginal, und dementsprechend keine große Resonanz auslösten. Es kam ihr vor, als sei es so ziemlich der gesamten
     Menschheit egal, ob der von ihr enthüllte Zusammenhang nun Teil des kollektiven Wissens war oder nicht. Enttäuscht und zugleich
     erleichtert, kehrte sie der mathematischen Forschung schließlich den Rücken.
     
    |29| Der Buick erreicht das Ende der Brücke und ist jetzt Teil einer Blechinfusion, die in Manhattans Straßen tropft. Schmucklose
     Wohnhäuser türmen sich rechts und links, gut zehnstöckig, die allmählich näher an die Straße rücken. Der Fahrzeugstrom lockert
     sich auf, und jetzt reicht es nicht mehr, das Fenster zu öffnen, man müßte das Dach absprengen, um sich sämtliche Stockwerke
     in die Augen regnen zu lassen und zu sehen, wie die Wolkenkratzer an den Wolken kratzen. Bleistifte, die aus dem Boden ragen.
     In der wievielten Etage beginnt der Himmel? Jan würde es nicht bemerken, wenn sie am Empire State Building vorbeiführen, es
     wäre eine der Fassaden, die das Wagendach im fünften oder sechsten Stock abschneidet. Dann wieder Gebäude mit drei, manchmal
     nur zwei Geschossen, Baulücken oder kleinere Plätze. Meterhohe Reklametafeln mit Halogenbeleuchtung säumen die Straße. Jans
     Blick haftet einen Moment lang an einer Schwarzweißfotografie, groß wie eine Kinoleinwand: eine junge Frau hingestreckt auf
     dem Boden, den Kopf in die Hand gestützt, bekleidet nur mit einem dunklen Body,
Calvin Klein underwear.
Das Bild zieht vorbei.
    Walter schweigt seit der Champagnergeschichte. Hier und da steigen Dampfschwaden auf, als köchelten kleinere Vulkane unter
     dem Pflaster. Der Asphalt ist feucht, und in den Abfallkörben auf dem Gehweg haben sich ausrangierte Schirme ineinander verhakt,
     verbogene Gestelle und zerrissene Stoffbahnen, die leicht im Wind flattern. Der Verkehr rollt durch den Schrift- und Signalwald
     im Erdgeschoß der Stadt. Kein Meter ohne eine Botschaft, ein Angebot, einen Hinweis:
Pizza, Video, one way, car-park, check our prices, parking 9 am – 7 pm
,
25¢ per 1 ⁄ 2 hr.
    »Vor ein paar Wochen«, sagt Walter nach ein paar Minuten, »hat es in der Galerie einen Streit gegeben. Die |30| Hintergründe haben mich nicht interessiert. Kristin kam wütend nach Hause und schimpfte auf alles mögliche. Ehrlich gesagt,
     mich hat allein die Tatsache gefreut, daß sie den ganzen Laden am liebsten in die Luft gejagt hätte. Ich hoffte damals, die
     Geschichte würde sie kurieren und ihr klarmachen, daß ihre Künstlerfreunde nichts als Dogmatiker sind, die ihre Entscheidungen
     nicht auf der Basis von Fakten fällen.«
    Jan hat das Gefühl, Walter erzählt nicht die ganze Geschichte.
    »Ich habe am nächsten Tag in der Bank nachgefragt, ob sie nicht eine Stelle für sie hätten«, fährt er fort. Er wechselt die
     Spur und nimmt sich noch eine Zigarette. »Sie waren tatsächlich interessiert. Ich habe es ihr allerdings nicht erzählt. Sie
     hätte sich geärgert.«
    Er macht eine Pause und wechselt in einen unverbindlichen Tonfall. »Weißt du, sie hatte sich wohl in Rick, diesen Fotografen,
     verliebt. Aber ich habe keine große Angelegenheit daraus gemacht. Ich meine, solche Sachen kommen vor, man sollte sie nicht
     überbewerten.«
    »Ach?« sagt Jan überrascht und gleichzeitig unangenehm berührt. Walters Bemerkung verweist ihn, was Kristin betrifft, vom
     zweiten Platz auf Platz drei oder in irgendein anonymes Verfolgerfeld.
    »Die Sache hat sich dann gelegt«, fährt Walter fort. »Es war kein Drama.« Er schlägt Asche ab und reißt unvermittelt das Steuer
     herum, als sei ein Abgrund vor ihm aufgetaucht. Er schlägt auf die Hupe und klatscht sich mit der rechten Hand mehrfach auf
     die Stirn, um dem Vorausfahrenden, der sich, wie Jan findet, außer einem ruhigen Spurwechsel nichts hat zuschulden kommen
     lassen, klarzumachen, was er von dessen Intelligenz hält. Walter schert aus, gibt Gas, überholt den anderen, sieht auf seiner |31| Höhe wütend zu ihm hinüber und wirft ihm ein paar Beschimpfungen zu. »Idiot«, befindet er abschließend und beruhigt sich wieder.
    Jan denkt nach. Es kommt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher