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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise
Autoren: Ulrich Woelk
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sie jetzt gehen
     sollten, zu ihm oder zu ihr.
    Nach einer Weile kam Walter zurück und verkündete die Neuigkeiten irgendwelcher Schlagzeilen. Es war klar, wohin sie gingen:
     Jan nach Hause und Kristin ins Flugzeug, mit Walter, seinem ältesten Freund. Sie drückten die Zigaretten aus.
     
    Jetzt steht Jan, sein Handgepäck zwischen den Füßen, unsicher in dem überbreiten Passagierbus und sieht auf die Maschinen,
     die schwer und träge auf dem Zement des Rollfelds stehen. Die Triebwerke unter den Flügeln sind kaum kleiner als der Bus,
     in dem er an ihnen vorbeischaukelt. Die Turbinenöffnungen mit den langsam rotierenden Lamellen ziehen vorüber, zwei Wolkenmühlen,
     die sich in Kürze durch sechstausend Kilometer Luft fressen sollen. Dann steht er auf der Gangway und wartet, ein fast altmodischer
     Augenblick. In der Maschine schiebt er sich mit kleinen Schritten an den Stewardessen vorbei, die jeden Fluggast begrüßen
     wie auf einer Cocktailparty. Jan kennt die Situation gut: der Stau im Gang, die Platzsuche und die Überlegung, wen man als
     Nachbarn erwischt, als Nachbarin – ein kurzer Polaroidblick, den man entwickelt, während man das Gepäck verstaut. Dann grüßt
     man unverbindlich wie alle. Vielleicht wird man sich in ein paar |12| Stunden ebenso unverbindlich verabschieden. Oder man stirbt gemeinsam.
    Jan setzt sich und überhört die Sicherheitshinweise. Er wartet beschäftigungslos auf den Moment, in dem sich die Rollbahn
     von den Reifen löst, um langsam in die Tiefe zu sinken und sich erst Stunden später in einem anderen Teil der Welt wieder
     zu nähern. Er wartet auf den Kampf um die Armlehne. Nach dem Start werden heiße Tücher verteilt, um den Schweiß von Händen
     und Nacken zu wischen. Als nächstes gibt es ein Schokolädchen wie zur Belohnung, weil keiner hysterisch geworden ist. Der
     Rumpf senkt sich langsam zurück in die Horizontale, und die Maschine erreicht ihre Reisehöhe. Jan hat acht Stunden vor sich,
     mit denen er nichts anzufangen weiß. Er nimmt sein kleines Aufnahmegerät aus der Jackentasche, einen
Panasonic -
Kassettenrekorder, den er seit Jahren mit sich trägt, um auf Reisen seine Beobachtungen auf Band zu sprechen. Im Moment allerdings
     gibt es nichts festzuhalten, und Jan sieht hinaus auf den Flügel, der die Maschine begleitet wie ein metallischer Schatten.
     Darüber wölbt sich das Violett des Dreißigtausend-Fuß-Himmels. Die Eiskristalle auf den Fenstern bilden einen neblig glitzernden
     Rahmen, der aussieht wie bei den eingepuderten Fernsehbildern zu Weihnachten.
    Jan wird den Gedanken an Kristin nicht los, seit er sich ins Taxi gesetzt hat und zum Flughafen gefahren ist durch die noch
     ruhigen Straßen, in denen die Luft stand wie Wasser in einem unbenutzten Schwimmbecken. Die Baumkronen trieben auf der Oberfläche,
     angestrahlt von einer hinter Häuserfassaden verborgenen Sonne. Dann eine von Helligkeit geflutete Kreuzung, die Ampeln spielten
     mit Farbbällen. Der Wagen rollte vorbei an Kaufhäusern, Bankfilialen, Restaurants und Reisebüros. Dann endete die |13| Häuserzeile, und die Straße verlief parallel zu einem Kanal, Paillettenteppiche kräuselten sich auf dem Wasser. Im Hintergrund
     bereits der Flughafen. Jan trug seine Tasche zum Eingang, die Automatiktür öffnete sich, das Gebäude schluckte ihn, und in
     ein paar Stunden wird es ihn wieder ausspucken, siebentausend Kilometer entfernt, ein großes Gebäude, ein weltumspannendes
     Gebäude, das Kristin lediglich durch eine andere Tür betritt.
    Es ist erstaunlich, wie das Fliegen innerhalb von wenigen Jahrzehnten von einer ehrfurchtgebietenden zu einer gewöhnlichen
     Fortbewegungsart geworden ist. Es kommt einem vor, als sei die Menschheit, die über Jahrtausende vom Fliegen geträumt hat,
     gar nicht in der Lage, sich über die Verwirklichung dieses Traums angemessen zu freuen. Allerdings muß man zugeben, daß die
     Realität eines Langstreckenfluges in der Tat ernüchternd ist und aus nichts als einer Summe von dummen Beschäftigungen besteht:
     Mit der Rückenlehne spielen, vor und zurück, ein bißchen vor und ein bißchen zurück, ein Zeitvertreib, den man dem Vordermann
     nicht zugesteht. Die Frischluftdüsen, kleine aggressive Föne, denen man die Gurgel umdreht. Die Zeitung auffalten und wieder
     zusammenfalten und wieder auffalten und wieder zusammenfalten. Aufstehen, weil der Nebenmann pinkeln muß. Aufstehen, weil
     der Nebenmann vom Pinkeln kommt. Die Stewardessen
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