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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise
Autoren: Ulrich Woelk
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Stecknadeln in einem Stecknadelhaufen   – Kristin und Walter. Als Jan vor fünf Jahren erfahren hat, daß die beiden heiraten wollten, war sein erster Gedanke, Kristin
     müsse schwanger sein, ein Gedanke, der ihm nicht gefiel, weil er sie sich mit Bauch nicht vorstellen konnte. Sie war gut einssiebzig
     groß und wog keine fünfundfünfzig Kilo. Ohne Bauch. Jan fand, daß die Hagerkeit zu ihrem Wesen paßte, während er in einer
     Schwangerschaft nur etwas Fremdes hätte sehen können. Eine Verunstaltung, die ihr biologische Mächte angezaubert hätten.
    Die meisten Paare, die Jan kannte, hatten wegen der |19| Kinder geheiratet. Genauer wegen der Embryonen   – Materie, durchsichtig wie Spucke und ausgestattet mit der ungeheuren Macht, zu wachsen und zu wachsen. Und durch die medizinische
     Technik wurde es nicht leichter, sondern schwerer, dieses Wachstum zu beenden, weil die Fotos von den eingerollten Wesen mit
     zwei Ärmchen, Kopf und merkwürdig stechenden Augen nicht zu ignorieren waren, obwohl es sich dabei, zumindest anfänglich,
     auch um Affen handeln könnte oder um einen Fisch. Aber, dachte Jan, man kann nicht zurück hinter das, was man weiß, und man
     weiß, daß es ein Mensch ist, der dort wächst und sich schon längst auf ein paar Jahrzehnte eingestellt hat. Diese ungeheure
     Macht eines Krümels Materie, die Zukunft praktisch als Eigentum zu betrachten. Jan will nicht Vater werden.
    Kristin war damals nicht schwanger, und als Jan von der geplanten Hochzeit erfuhr, ist er ins Kino gegangen. Eine amerikanische
     Komödie, mehr aus Zufall, um sich abzulenken. Letztlich, so erklärte er sich seine Irritation damals, ist man immer eifersüchtig,
     wenn ein anderer eine interessante Frau bekommt: Man will sie alle.
     
    Walter kommt ihm entgegen. Er trägt ein buntbedrucktes Freizeithemd, helle Jeans und Turnschuhe. Amerika, denkt Jan, steht
     ihm nicht schlecht. Die Haare sind länger als vor vier Jahren, Walter hat sie hinter die Ohren gestrichen. Das Gesicht wird
     durch den Schnitt schmaler. Die oberen beiden Knöpfe seines Hemdes stehen offen, und auf Hals und Brustansatz hat sich ein
     glänzender Film gebildet, der nicht zur trockenen Luft im Flughafengebäude paßt. Seine Figur hat sich verändert, Oberkörper
     und Schultern sind im Vergleich zur Hüfte breiter geworden.
    Dann stehen sie sich gegenüber, zum ersten Mal seit vier Jahren, und wissen für einen Moment nichts miteinander |20| anzufangen. Sie haben nie viel von Begrüßungszeremonien gehalten, ein Handschlag hat immer gereicht – allerdings hatten sie
     nie vier Jahre zu überbrücken. Sie umarmen sich und erstarren einen Augenblick wie eine Uhr, die auf den nächsten Impuls wartet.
     Was ist mit Kristin? denkt Jan.
    »Willkommen in New York«, sagt Walter gutgelaunt, und Jan bedankt sich. Er nimmt seine Tasche. Die Haupthalle hat sich geleert,
     und Jan dreht sich zum Ausgang. Walter geht voraus. Der Himmel, den Jan vom Flugzeug aus gesehen hat, ist von unten betrachtet
     eine milchige und strukturlose Fläche. Die Luft ist heiß und feucht wie beim Kartoffelabgießen.
    »New York liegt auf der Höhe von Neapel, wußtest du das?« sagt Walter, und in seiner Stimme liegt ein deutlicher Stolz, daß
     er hier lebt, wovon – glaubt er – alle anderen träumen. Er wendet sich nach rechts. Autos rollen über hellen Beton mit eingesickerten
     Ölflecken, schwarzen Teernähten und abgeriebenen gelben Parkmarkierungen. Über allem rauscht der einförmige Chor aus- und
     warmlaufender Triebwerke.
    Walter überquert die Straße. »Ende Mai, Anfang Juni schlägt das Wetter um. Vorher ist es angenehm. Heute ist es besonders
     drückend.«
    Hitze und Feuchtigkeit, die durch Kragen und Ärmel kriechen, zwingen Jans Haut, sich Pore um Pore an der Kleidung festzusaugen.
     Er folgt Walter an einer langen Reihe gelber Taxis vorbei.
Einsatz in Manhattan.
    Walter geht nach links auf einen Parkplatz. »Man sagt, daß es in New York ohne die ganzen Klimaanlagen halb so heiß wäre.
     Einer schaufelt dem anderen die Hitze vor die Tür. Wie Schnee. Irgend etwas wird schon dran sein. Wir haben zu Hause eine
     Klimaanlage, benutzen sie aber kaum.«
    |21| Er bleibt vor einem hellblauen Mittelklassewagen stehen, einem Buick mit taubenblauem Innenraum und grünlich beschichteter
     Windschutzscheibe. Er öffnet die Beifahrertür, Jan setzt sich. Im Wagen ist es kühler als draußen, und als er die Tür zuschlägt,
     hat er das Gefühl, er sperre den
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