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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise
Autoren: Ulrich Woelk
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sie doch noch ein Geheimnis enthalten,
     einen Hinweis zumindest, aus dem |254| heraus sich alles verstehen ließe. Sie drehte die Kassette um, legte sie wieder ein und schaltete an. Der Lautsprecher blieb
     stumm, sendete nur ein leises Rauschen. Nach fünfzehn, zwanzig Sekunden dann erklang Jans Stimme. Kristin starrte auf das
     Gerät in ihrer Hand.
    Julia ist im Liegestuhl verschwunden. Ich stelle mir vor, wie die Sonne ihren Körper aufheizt. Ihre nahtlose Bräune hat mir
     gefallen, als sie vorhin den Kaffee gebracht hat. Sie dreht den Liegestuhl ein Stück und legt sich wieder hin. Ich sehe jetzt
     ihren Körper auf dem hellen Polster. Ihre Füße stehen am Ende über und sind einwärts gedreht wie bei einem Rodler. Ihre Brüste
     glänzen in der Sonne von dem Nußöl, mit dem sie sich eingerieben hat.
    Ein kurzes Knacken zeigte an, daß Jan den Rekorder abgestellt hatte. Kristin trank einen Schluck Kaffee und zündete sich eine
     Zigarette an, während das Band weiterlief. Es knackte wieder.
    Julia hat den Liegestuhl erneut ein Stück gedreht. Ich kann sie jetzt von vorne sehen. Ich sehe ihre dunklen, kurz geschnittenen
     Locken, ihre geschlossenen Augen, ihre leicht seitwärts fallenden Brüste, ihre fast eckige Taille und das geometrisch exakte
     Dreieck ihrer Scham, dem sie sich hin und wieder widmet wie ein geduldiger Gärtner seinen Hecken.
    Die Aufzeichnung brach wieder ab. Kristin schaltete das Gerät aus. Sie stellte die Tasse zurück auf den Tisch. Sie fragte
     sich, ob es auf den Bändern eine Notiz über sie gab. Sie betätigte die Taste. Kein Text jetzt, sondern nur Raumatmosphäre
     drang aus dem Lautsprecher, entfernte Straßengeräusche. Kristin hatte das Gefühl, als überlege Jan. Dann polterte es, als
     habe er das Gerät aus der Hand gelegt. Stoff raschelte. Kristin hörte entfernt und leise eine Frauenstimme, ein
Nanu?
und ein paar Worte, die nicht zu verstehen waren. Kristin stellte sich Julia vor, deren |255| Körper nach Jans Beschreibung so anders war als ihrer, dunkel und weiblich im Gegensatz zu ihrer hellhäutigen Knabenhaftigkeit.
     Sie war eifersüchtig. Sie stellte sich vor,
sie
hätte vor zwei Jahren auf Jans Dachterrasse in der Sonne gelegen.
    Jan und Julia unterhielten sich, zu leise, als daß etwas zu verstehen gewesen wäre. Dann herrschte wieder Stille, und Kristin
     stellte sich vor, daß Jan sich über diese Frau, Julia, beugte und begann, sie zu küssen.
    Wieder wurden ein paar Worte ausgetauscht, dann folgten Schritte und das Rascheln von Stoff, wie vorhin, nachdem Jan das Gerät
     aus der Hand gelegt hatte. Die Geräusche waren jetzt nah: Kristin glaubte Laken zu hören, die gegeneinander rieben; Haut,
     die über Stoff strich, und schließlich das Atmen von zwei Menschen, das immer stärker wurde, tiefer und das schließlich in
     ein Wort überging, das aus dem Inneren ihrer Körper langsam an die Oberfläche zu steigen schien, ein immer häufiger und lauter
     wiederholtes Wort, ein am Ende im Duett gehauchtes, gesprochenes, gejubeltes Wort, das als Antwort auf eine Frage gedeutet
     werden konnte.
    Kristin kannte die Frage.
    Jan hatte sie ihr einmal gestellt.
    Die Frage, ob das Leben denn okay ist, so wie es ist?
    Ja!

Informationen zum Buch
    Jan, 35 Jahre alt, liebt das angenehme Leben, liebt die Frauen. Er fliegt nach New York, um seinen alten Freund Walter zu
     besuchen, dessen Frau Kristin er schon immer bewundert hat. Das Ehepaar allerdings liegt im Streit. Kurz entschlossen nimmt
     Kristin Jan auf eine Reise quer durch Amerika mit, und beide rollen in einem alten Buick vorbei an zahllosen Motels und verstaubten
     Tankstellen ins Ungewisse. Als Walter jedoch der illegalen Spekulation mit Aktien beschuldigt wird, offenbaren sich die wahren
     Hintergründe für diese amerikanische Reise.
    Woelk gelingt das psychologisch feinfühlige Porträt einer Generation, die sich gelassen in demonstrativer Diesseitigkeit eingerichtet
     hat und sich ihrer eigenen Wünsche und Hoffnungen nie bewußt geworden ist.

Informationen zum Autor
    Ulrich Woelk , geboren am 18. August 1960 in Köln, studierte in Tübingen Physik und zog anschließend nach Berlin. Dort promovierte er 1991
     am Institut für Astronomie und Astrophysik der Technischen Universität, wo er bis 1995 als Astrophysiker tätig war. Heute
     lebt der Erzähler und Dramatiker als freier Schriftsteller in Berlin. Für das Debüt ›Freigang‹ wurde ihm 1990 der aspekte-Literaturpreis
     verliehen. Von Ulrich Woelk
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