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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise
Autoren: Ulrich Woelk
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restlichen Sachen seinen Eltern übergeben,
     aber offenbar hatte sie die Schachtel schließlich vergessen und sie war in ihr Umzugsgut geraten. Sie legte das Bandgerät
     auf den Tisch.
    Sie sah sich um, als sehe ihr jemand zu. Die friedliche Atmosphäre war ihr angenehm und bedrückte sie zugleich. Ab und zu
     plärrte es aus dem Babyphon, das neben den Kassetten lag. Dann schaltete sich die Verbindung wieder ab. Irgend etwas an dem
     sonnigen Arrangement aus Gärtchenidylle und Thermopenverglasung verschaffte ihr für Sekunden eine Gänsehaut.
    Vor ein paar Tagen saß sie mit Walter abends auf der Terrasse. Der Sternenhimmel schälte sich langsam aus der Abenddämmerung
     heraus. Sie wies auf einen helleren Stern. Das sei Jupiter, erklärte sie, in den vor zwei Jahren dieser Komet eingeschlagen
     sei. Bis zum nächsten Mal werde es nun eine Million Jahre dauern. Walter nickte. |252| Kürzlich habe er gelesen, daß die Galaxien im Weltraum merkwürdig angeordnet seien. Nicht etwa gleichmäßig, sondern entlang
     von Linien, und diese bildeten ein weißes Strichmännchen mit ausgebreiteten Armen.
    Kristin entdeckte unter den Kassetten eine mit der Aufschrift USA.   Sie nahm sie heraus, legte sie in das
Panasonic -
Gerät und spulte sie zurück. Dann wartete sie einen Moment. Sie war unsicher, ob sie das Band abhören sollte, ob sie das Recht
     dazu hatte. Als sie neben Jan im Wagen saß und das Gerät entdeckte, schien er sich nicht wohl dabei zu fühlen, als sie es
     anschaltete. Aber er hatte auch nicht protestiert.
    Kristin schaltete das Gerät ein. Jans Stimme ertönte über dem gleichmäßigen Säuseln von Triebwerken. Er sprach Bemerkungen,
     Assoziationen und Vorurteile über die USA auf Band, und Kristin erinnerte sich, daß er ihr erklärt hatte, er tue dies vor
     jeder Reise in ein Land, in dem er noch nicht gewesen sei, weil es heutzutage praktisch keinen Ort mehr gebe, den man nicht
     schon zu kennen glaube. Das Unbekannte interessierte ihn, und er litt darunter, daß es mehr und mehr verlorenging.
    Nach seinen US A-Assoziationen machte er stenogrammartige Anmerkungen zum Flug, über die heißen Tücher und die Schokolädchen, die nach dem Start verteilt
     wurden, über die Frischluftdüsen über den Köpfen, über das Essen, offensichtlich Truthahnlasagne.
    Kristin war überrascht, mit welcher Akribie Jan die Details vermerkte. Sie hatte ihn für einen eher flüchtigen Beobachter
     gehalten; jemand, für den das Leben ein sanfter Parcours aus Schlüsselreizen war, obwohl sie manchmal das Gefühl gehabt hatte,
     daß er eine merkwürdige Energie verbarg. Er liebe einfach die Frauen, hatte er einmal zu Kristin gesagt, aber einen Moment
     lang war ihr der Satz |253| wie ein Vexierbild vorgekommen, das noch etwas anderes darstellte, als auf den ersten Blick zu erkennen war. Vielleicht, das
     dachte sie jetzt, hat er in den Frauen das Unbekannte gesucht, das unentdeckte Land.
    Weizenfelder, Maisfelder, Maisfelder, Weizenfelder   …
Einen Moment lang war Kristin irritiert, ihre eigene Stimme zu vernehmen, dann erinnerte sie sich. Einmal hatte sie das Band
     laufen lassen, als
WCSX classic rock station
im Hintergrund die Songs spielte, die Jan mochte. Jetzt klang die Musik, der sich das Fahrgeräusch des Wagens überlagerte,
     seltsam fern. Es war kaum vorstellbar, daß sich auf dem Band, wenn auch unhörbar, ihr eigenes Atmen und ihr Herzschlag befanden;
     Jans Atmen, Jans Herzschlag.
    Die Aufzeichnung brach ab. Kristin ließ das Gerät dennoch weiterlaufen, als bestehe die Möglichkeit, Jan könnte irgendwo am
     Ende eine Botschaft hinterlassen haben, eine Nachricht für sie. Sie erinnerte sich an den Moment, als ihr Jan und Walter das
     erste Mal begegneten. Jan kam ihr verschlossen vor, in sich gekehrt und mit sich beschäftigt, als hätte er gerade etwas erlebt,
     das die Richtung seines Weges beeinflussen würde – er wußte nur noch nicht, wie. Walter dagegen war unbeschwert, und sein
     Optimismus zog Kristin damals an.
    Immer wenn sie Jan später traf, hatte sie das Gefühl, daß er sich Mühe gab, nicht den Fehler dieses ersten Abends zu wiederholen.
     Er verbarg sich ihr gegenüber, er war nur noch Leichtigkeit, Unkompliziertheit. Als wolle er ihr sagen: Sieh her! so einfach,
     so lebenswert ist das Leben. Und er hatte recht. Er war nicht schwerelos geboren, aber er hatte Gewicht um Gewicht abgeworfen.
    Das Bandgerät stoppte. Kristin nahm die Kassette heraus und sah sie eine Weile an, als müsse
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