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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise
Autoren: Ulrich Woelk
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reinigt die Windschutzscheibe von heruntergeregnetem Staub. Dann gibt es nichts mehr zu tun und nichts mehr zu sagen. Sie
     verabschieden sich.
    Jan steuert den Buick zur Hauptstraße. Er hat keinerlei Orientierung. Er befindet sich in der Mitte des nordamerikanischen
     Kontinents, und auf seiner inneren Landkarte gibt es nur zwei Richtungen: nach New York oder nach San Francisco. Fifty-fifty.
     Er fährt nach rechts. Die Straße führt über die Hügelketten. Die Felsen, die gestern abend wie goldene Säulen aus dem Wald
     geragt haben, sind zu grauen Schemen geworden, die im über den Bäumen liegenden Dunst kaum Konturen gewinnen.
    Endlich ein Wegweiser: Rapid City. Die Straße windet sich aus dem Tal die Berge hinauf. Dahinter liegt die riesige Ebene:
     das Meer, über das sie gekommen sind und über das sie zurück müssen. Wäre die Situation eine andere, Jan hätte angehalten
     und eine Schweigeminute eingelegt angesichts der Größe der Erde, aber es ist nicht die Zeit für unschuldiges Staunen, weil
     die Dinge nicht so schlicht und |241| schön sind, wie die Ebene einen glauben machen könnte. Die Dinge sind kompliziert.
    Die Straße führt sanft hinab. Wieder sind kaum Fahrzeuge unterwegs, als Jan auf den Highway biegt. Er bedauert es, daß er
     nicht die Auffahrt Richtung Westen nimmt. Die Vorstellung, den Pazifischen Ozean zu erreichen, hätte ihm gefallen – hätte
     ihm
jetzt
gefallen; er ist immer der Ansicht gewesen, daß es falsch ist, Dinge aufzuschieben. Woher soll er wissen, ob er dem Pazifik
     noch einmal so nah kommen wird wie jetzt? Er nimmt die Sonnenbrille von der Ablage unter der Frontscheibe und setzt sie auf.
     Er rutscht etwas tiefer in den Fahrersitz und stützt seinen Ellbogen auf die Armlehne. Er hält sich ans Geschwindigkeitslimit.
     Der Himmel ist jetzt klar. Es geht Jan durch den Kopf, daß für die Astronomen das gute Wetter zu spät kommt: Der Komet ist
     geschluckt, das Feuerwerk vorbei.

|243| epilog
    |245|
Was einem zu den USA einfällt: Hollywood, die Mondlandung, Vietnam. Endlose Highways. Marlboro-Country. Der Grand Cañyon,
     das Monument Valley. John Wayne und James Dean. Micky Maus. Bildungslose Menschen, naiv und begeisterungsfähig, Comicmenschen,
     Unterhaltung in Sprechblasen: Oh yes, really? great! how nice! how beautyful! Interesse für Politik, wenn überhaupt, dann
     als Show. Ein Volk von Wahlkampfwimpelchenschwenkern und Präsidentschaftskandidatenbeschreiern. Der Mord an John F.   Kennedy. CNN und CIA.   Fernsehen, Fast-Food und Wolkenkratzer. Die Kriminalität in den Städten. Straßengangs. Schußwaffen für jedermann. Ein Volk
     aus Guten, Bösen und Geschworenen. Der Kreuzzug gegen das Rauchen. Ein Volk von Sucht-Hassern, die so süchtig sind wie sonst
     niemand auf der Welt. Heroin, Kokain und Crack. Der amerikanische Traum. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Das Recht des Stärkeren.
     Hire and fire, eine Ellenbogengesellschaft ohne Sozialsystem. Das Elend auf den Straßen. Obdachlosigkeit. Ein Volk aus vielen
     Armen und wenigen Reichen. Ein Volk von McDonaldsjobbern und In-Limousinen-Telefonierern. Rockefeller und Bill Gates. Die
     ungenierte Zurschaustellung von Reichtum. Eine Verschwendungsgesellschaft, die dabei ist, die Erde in kürzester Zeit zu plündern,
     und sich bereits zum Kampf um die letzten Ressourcen rüstet. Desert Storm. Die Überzeugung, auf der Seite von Recht und Moral
     zu stehen. Talk-Radio als Medium, in dem sich selbst Adolf
|246|
Hitler hätte austoben und über Juden und minderwertige Rassen hetzen dürfen wie seinerzeit auf den Nürnberger Parteitagen.
     Das Ideal des schönen Menschen. Gebräunte Männer und vollbusige Frauen an sonnenglitzernden Swimmingpools. Der Körperkult.
     Jogging und Aerobic. Ein Volk von Bodybuildern und Kraftraumstrebern mit schweißnassen Handtüchern im Nacken. Moderne, makellose
     Individuen in einem Panzer aus Fitneß. Mister und Miss Allesmögliche. Energy Drinks und schlechtes Bier. Nichts als Light-Produkte.
     Kein Koffein, kein Nikotin, kein Fett, kein Cholesterin, kein Salz. Gesundheitsfanatiker und Stadtneurotiker. Ein Volk von
     sexuellen Belästigern und sexuell Belästigten. Sechzig Prozent ungewollte Schwangerschaften, gegenüber fünfundzwanzig in Deutschland,
     was in beiden Fällen viel ist, als lasse sich die Menschheit ihre ältesten Geschichten nicht widerstandslos durch technischen
     Fortschritt nehmen.
     
    Kristin ging mit einer Tasse Kaffee aus der Küche über die
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