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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise
Autoren: Ulrich Woelk
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Kontinent, den er soeben betreten hat, wieder aus.
    Walter setzt rückwärts aus der Parklücke. »Kristin möchte nicht, daß die Klimaanlage läuft. Manchmal übertreiben sie es hier
     wirklich. Im Sommer gibt es die meisten Erkältungen«, sagt er und lacht. Er steuert den Wagen langsam über den Parkplatz und
     fingert eine Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche.
    »Du rauchst noch?« fragt Jan. »Ich dachte, das gehört sich hier nicht.«
    »Stimmt auch.« Walter hält ihm die Packung hin.
    »Ich habe aufgehört«, sagt Jan.
    Walter nimmt ein Feuerzeug von der Ablage, zündet die Zigarette an und bläst den Rauch gegen die Frontscheibe. Die Dunstwirbel
     geraten in die Fänge der Air-condition und lösen sich auf. Nach der feuchten Hitze auf dem Parkplatz ist es im Wagen kühl.
     Frostige Luft aus verschiedenen Schlitzen verwandelt das Innere in einen Eisschrank. »Im Auto ist es ohne Air-condition wirklich
     nicht auszuhalten«, sagt Walter. »Im Stau würdest du verrückt werden. Hast du
Falling Down
gesehen? Michael Douglas spielt einen, der im Stau durchdreht und dann Amok läuft. Die Hitze war nicht wirklich der Grund.
     Er war ein typischer Verlierer, nicht sehr sympathisch, aber hier und da versteht man ihn. Irgendwann platzt jedem der Kragen.«
    Sie biegen auf einen Highway. Jan spielt mit der ausklappbaren Halterung für Getränkedosen in der Mittelkonsole. Er wartet
     auf die Wolkenkratzer und ist enttäuscht: |22| Nur Einfamilienhäuser säumen die Straße, Holzbauten mit rußverblaßten Farben, ehemals gestrichen in Gelb oder Himmelblau.
     Vor den Eingängen dösen kleine Veranden, eine fahlhäutige Vorstadtidylle mit sauerstoffarmen Gärtchen.
    Es gefällt Walter, über das Leben in New York zu reden, das Jan nicht kennt. »Eigentlich braucht man hier kein Auto«, sagt
     er und zieht einen Aschenbecher aus den Armaturen. »Aber es ist praktisch, wenn man am Wochenende mal raus will. In der Stadt
     geht alles mit Taxis. Sie haben hier vernünftige Preise. Nicht dieser verordnete Nepp wie in Deutschland. Ich meine, wenn
     jeder nehmen kann, was er will, dann pendelt sich alles auf einem vernünftigen Niveau ein. Wenn alles normal läuft.«
    Jan sieht aus dem Fenster. Die Skyline von Manhattan hat ihren Auftritt: eine Gebirgskette aus Legosteinen, eine auf- und
     absteigende Börsenstatistik, für die sich allerdings niemand interessiert. Der Verkehr rollt ruhig über die rissigen Betonplatten
     des Expressways, die Fahrer nehmen keine Notiz von ihrer Stadt, klopfen mit den Fingern irgendeinen Rhythmus aufs Lenkrad
     oder achten auf die grünen Straßenschilder mit weißer Schrift, als sei die nächste Abfahrt wichtiger als die grauen Zinnen
     unter dem weißen Himmel. Das Logo der Neuen Welt. Dann wieder versperren dreckige Backsteinbauten den Blick auf die Stadt.
     Links erstreckt sich eine verschachtelte Industrieanlage, ein Strickmuster aus Rohren, Gerüsten, Kabeln, Stahlträgern und
     Gleisen, auf und zwischen denen sich nichts bewegt, keine Loren, keine Lastwagen, keine Menschen. Wie abgeschaltet liegt das
     Areal neben der Schnellstraße, auf der die Energie vorbeiströmt, ohne daß ein gegenseitiger Anschluß zu erkennen wäre. Jan
     hat das Gefühl, nicht angeschlossen zu sein, New York streicht nicht |23| über seine Haut und verfängt sich nicht in seinen Haaren. Er müßte das Fenster öffnen, um das Gefühl loszuwerden, die Welt
     aus einem klimatisierten U-Boot zu betrachten.
    Walter ist noch bei den Taxipreisen. »Diesen Winter hatten wir einen Schneesturm«, erzählt er, »an sich nichts Ungewöhnliches,
     aber er hat die Metro lahmgelegt. Busse fuhren auch nicht, und die einzige Möglichkeit, vom Flughafen in die Stadt zu kommen,
     waren ein paar Taxis – für hundertfünfzig bis zweihundert Dollar, habe ich gehört. Viel Geld für ein paar Meilen, aber man
     konnte wenigstens in die Stadt kommen. Hätten die Fahrer den Preis nicht selbst bestimmen können, wären sie zu Hause geblieben.«
    Friedhöfe fließen vorbei, aufgerichtete Marmorplatten, die Toten liegen dicht an dicht, eine Skyline aus Grabsteinen. Kaum
     anzunehmen, daß die Toten unter dem Rauschen des Expressways ihre Ruhe finden. Das Leben geht vor. Und immer wieder die Wegweiser
     –
Last Exit Brooklyn.
Wo liegt Brooklyn? Sie fahren vorbei an geschwärzten Fassaden aus Backsteinen und Fensterglas, sechs-, siebengeschossige Wohnhäuser
     mit rostigen Feuerleitern. Filmszenen schieben sich über die Wahrnehmung,
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