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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise
Autoren: Ulrich Woelk
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durch die Stadt.
    Walter biegt nach links in eine leicht aufwärts führende Straße: acht- oder neunstöckige Bauten mit grauer Granitfassade.
     Er parkt und stellt den Motor ab. Jan hat keine Vorstellung, wo sie sich befinden. Sie sind in der letzten halben Stunde bis
     auf ein, zwei Richtungsänderungen geradeaus gefahren. Er öffnet seine Tür, die Schwüle kippt ihm entgegen. Es kommt ihm vor,
     als sei die Luft seit seiner Ankunft noch schwerer geworden. Der Himmel ist grau und morsch, ein mit Wasser gefülltes Leintuch.
     Es müßte dunkel sein oder zumindest dämmern. Jan kann sich kaum vorstellen, eine längere Strecke zu Fuß zu gehen. Hundert
     Meter wären zu schaffen, höchstens – dann verdampft man.
    |34| Sie betreten ein Marmortreppenhaus mit Fahrstuhl. Kurz darauf öffnet Walter eine Wohnungstür im vierten Stock. Jan ist nervös,
     als er in den Flur tritt.
    Kristin kommt ihm aus dem hinteren Teil der Wohnung entgegen. Sie hat sich nicht verändert. Ihre glatten blonden Haare trägt
     sie schulterlang, unter den Augen welken leichte Schatten, als hätte sie zuwenig geschlafen. Beim Lächeln werden sie zu Schlitzen,
     die kurzen Falten in den Winkeln sind neu. Sie bleibt vor Jan stehen, und als er ihren Körper berührt, erinnert er sich, daß
     es immer so gewesen ist, daß er immer das Gefühl gehabt hat, ein Kartenhaus zu umarmen.
    »Schön, dich zu sehen«, sagt sie. »Und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« In ihrer Hand hält sie ein in Geschenkpapier
     eingeschlagenes Buch. Jan ist einen Moment etwas irritiert, verlegen fast, aber dann erwachen seine im Umgang mit Frauen über
     Jahre kultivierten Instinkte: Er sieht das Geschenk an, als sei jetzt schon gewiß, daß es ein besonderes Geschenk ist. Er
     bedankt sich mit einem neben Kristins Wange in die Luft getupften Küßchen.
    Walter fühlt sich überrumpelt. Die Situation ist ihm unangenehm. »Wieso hast du mir denn nichts gesagt?« beschwert er sich.
    Kristin sieht ihn mit nachlässig gespielter Überraschung an. »Du hast nicht an Jans Geburtstag gedacht?«
    Walter überlegt, ob er Jan umarmen soll, was ihm aber irgendwie unpassend vorkommt.
    »Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, du könntest es vergessen haben«, sagt Kristin. Sie gibt sich keine große Mühe, ehrlich
     zu klingen.
    Jan winkt mit der gleichen Routine ab, mit der er sich für das Geschenk bedankt hat. »Das macht nichts.«
    |35| Walter schlägt sich leicht gegen den Kopf. »Das Alter«, sagt er. Der Scherz verpufft unbeachtet.
    Jan betritt das Wohnzimmer am Ende des Ganges. Links in der Ecke steht ein Schreibtisch mit Monitor und Drucker. Mit Modem
     und Fax, denkt Jan, könnte er jetzt arbeiten wie überall. Es ist egal, wo man ist, Hauptsache man ist online. Er bräuchte
     sich nur zu setzen, die Geräte einzuschalten, und er wäre wieder zu Hause. Siebentausend Kilometer in einer Sekunde, statt
     an einem Tag.
    Er bleibt auf dem stumpfen Eichenparkett stehen, während Walter und Kristin in der Küche leise zanken. Jan sieht sich um,
     links eine japanische Sitzgarnitur, gegenüber eine Jugendstilvitrine, daneben ein
Sony -
Fernseher mit Siebzig-Zentimeter-Bildröhre und ein aus naturbelassenem Metall geschweißtes Hifi-Rack mit C D-Ständer . Vielleicht, denkt Jan, haben sich CDs nur durchgesetzt, weil ihre glänzenden Kunststoffhüllen besser zu Futon-Matratzen
     und Alu-Jalousien passen als L P-Cover mit ihren abgestoßenen Ecken und dem zu großen Format.
    An einer Wand hängt eine Schwarzweißfotografie hinter Glas: Kristin, die auf einer Bank sitzt, irgendwo in New York, vorgebeugt,
     die Ellbogen auf den Knien. Sie trägt einen Männertrenchcoat, der, ein paar Nummern zu groß, weich um ihren Körper fällt und
     von der rechten Schulter gerutscht ist. Ihr Schlüsselbein ähnelt dem Faltenwurf des Stoffs, und es macht den Eindruck, als
     trage sie nichts darunter, als sei der Trenchcoat ein flüchtig übergeworfener Bademantel und die Bank eine Bettkante.
    Kristin kommt mit einem Kuchen aus der Küche, brennende Kerzchen darauf, keine fünfunddreißig allerdings, merkt sie an. Der
     Kaffee ist seidendünn, sie entschuldigt sich, sie habe sich die amerikanische Art – oder besser Unart – |36| angewöhnt, Kaffee wie Tee zu brühen. Sie stellt noch eine Schale mit Teigkringeln auf den Tisch.
»Donuts.«
    Jan ärgert sich, daß sie offenbar glaubt, er komme aus dem Busch.
    »Ich mag keine
Donuts,
aber Walter. Ich finde, man kann in New York nur
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