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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise
Autoren: Ulrich Woelk
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ihm vor, als habe Walter reden, als habe er alles einmal loswerden müssen, was bedeuten würde, daß
     er in den vier Jahren in New York niemanden kennengelernt hat, dem er wirklich vertraut. Jan wird klar, daß Kristin in einer
     Welt lebt, die mit ihm und seinen Erinnerungen nichts mehr zu tun hat.
    Walter läßt den Buick von Kreuzung zu Kreuzung rollen. Gelegentlich ein Stop. Das Gespräch steht wie eine abgelaufene Uhr.
     Man kann nicht beliebig lange über einen Menschen reden, den man kurz darauf sieht; fast so, als würde der Geruch eines Gesprächs
     noch eine Zeit an einem haften, denkt Jan.
    Er schwitzt. Sein Hemd klebt an der Wirbelsäule, von seinen Achseln kriechen Tropfen die Haut hinunter. Er überlegt, ob er
     das Fenster wieder schließen und es der Air-condition überlassen soll, die Luft auszuwringen. Ihm mißfällt das Prinzip, auf
     jede Plage mit einer technischen Erfindung zu antworten. Hitze, Kälte, Feuchtigkeit: alles wird abgeschafft. Jede Annehmlichkeit
     ist der Verlust einer Wahrnehmung.
    Die Luft zwischen den Autos flimmert, strömt an Türen und Kotflügeln entlang aufwärts. Jan läßt das Fenster geöffnet. Wenn
     schon nicht mehr rauchen, dann wenigstens die Stadt ohne Filter.
    Ein elektronischer Piepser reißt Jan aus seinen Gedanken. Walter holt ein Handy aus der Jackettasche und drückt ohne hinzusehen
     mit dem Daumen eine Taste.
Hello!,
sagt er, und Jan hört ihn zum ersten Mal englisch reden. Es kommt ihm vor, als fühle Walter sich in der fremden Sprache wohler,
     als sei alles, was er in der letzten halben Stunde |32| erzählt hat, nur in der deutschen Sprache real, während im Englischen die Welt eine unbeschwerte Welt ist, die Welt der Aktien,
     Renditen und Anleihen, was Jan aus einzelnen Begriffen schließt, die wie Signalsilben aus dem Sprachsee ragen, zu weit voneinander
     entfernt, als daß er ein Verständnisnetz dazwischen knüpfen könnte.
    Walter lacht über irgendeine Geschichte, in der
that little Japanese restaurant
eine Rolle spielt. Immer wenn er spricht, muß er das Telefon vom Ohr entfernen und die Sprechmuschel vor den Mund halten,
     weil der Hörer zu kurz ist. Das Problem ist nicht mehr, die Handys kleiner zu machen, sondern die Köpfe. Es geht jetzt um
     Jan,
a friend from Germany,
und dann um eine Verabredung.
Hold on a second,
sagt Walter und dreht den Kopf.
    »Würde es dich stören«, fragt er, »wenn ich für eine Stunde verschwinden würde? Es geht um Geschäftliches. Kristin müßte jetzt
     zu Hause sein.«
    Jan nickt. »Kein Problem«, sagt er.
    »Länger als eine Stunde brauche ich nicht«, versichert Walter noch einmal, hält das Telefon wieder vor den Mund und sagt:
okay, I’ll be there.
Er betätigt eine Taste und läßt das Handy wieder in die Jackettasche rutschen.
    »Das war Neil«, erklärt er, »ein Kollege. Wir arbeiten zusammen.« Er bremst vor Rot. Erneut haftet die Luft an Jans Haut,
     und ein Feuchtigkeitsfilm überzieht seinen Unterarm. Stehender Hitze ist nicht zu entkommen. Er betätigt jetzt doch den Fensterheber.
     Walter verschiebt ein paar Regler auf dem Armaturenbrett. Die gewittrige Wärme löst sich auf wie Atemdunst im Winter. Das
     Wageninnere wird wieder zu einer in den Stadtkreislauf injizierten Sonde, die teilnahmslos an den Fassaden vorüberzieht. Der
     Leuchtbalken eines Kopiergerätes. Weniger Reklametafeln und bunte Schriftzüge jetzt. An den |33| Straßenecken stehen Zeitungskästen,
New York Times
und
USA Today.
Es geht eine Spur ruhiger zu als noch vor einer Viertelstunde. Weniger Schwarze. Ein Schnellimbiß:
Papaya World: Natural Juices, Frankfurters, Pizza.
Europa ist nicht spurlos in Amerika verschwunden, denkt Jan.
    Die Graffiti an den Hauswänden. Nicht zu entziffernde Runen einer unsichtbaren Kultur, die sich über den ganzen Planeten ausgebreitet
     hat. Die gleichen gesprühten Rätsel, egal, ob in Berlin oder New York. So verschieden kann die europäische Jugend von der
     amerikanischen nicht sein. Sie haben eine gemeinsame Sprache, gemeinsame, grelle Embleme, die am Beton haften wie die Reste
     einer nächtlichen Schnitzeljagd, einer erfolglosen Jagd offenbar, jeder bleibt für sich allein, und deswegen müssen sie immer
     wieder losziehen, Nacht für Nacht, und all die verschlungenen Symbole sind nur die tausendfache Übersetzung eines einzigen
     Satzes: Ich bin da.
    Der Buick rollt geräuschlos über ein frisch geteertes Stück Straße. Die Luft schliert über den Asphalt. Die Autos schwimmen
    
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