Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern
Autoren: Jack Womack
Vom Netzwerk:
unwichtig eingestufter und heute erst recht bedeutungsloser Veranstaltungen, alte Disketten, leere Schachteln, die einmal Stifte enthalten hatten, sowie drei Dutzend Kopien meines Lebenslaufs in verschiedenen Stadien des Entwurfs, und warf alles fort. Zwischen zwei Seiten des Gesundheitsführers für Manager klemmte ein Zettel, den Bernard mir an unserem ersten Tag bei der Dryco zugeschoben, mir geschrieben hatte, weil er damals noch nicht wußte, ob man die Büros abhörte.
     
    Wenigstens haben wir Arbeit.
     
    Das Papierchen steckte vor der Seite, die die Aufklärungstexte über Geburtsvorbereitung einleitete. Ich stopfte alles in den Papierkorb; was ich zu Hause hatte, konnte nun ohne Umstände durch Wohnungsauflösung weiterverteilt werden, geradeso wie Jensens Habseligkeiten, die Sachen seiner Großmutter, so wie es gegenwärtig mit Gus' Besitz geschah. Erinnerungen in Festkopieform modelt der Lauf der Zeit um: Notizen vergilben, bis die niedergeschriebenen Worte, selbst wenn sie lesbar bleiben, unverständlich geworden sind; Liebesbriefe unterliegen einer umgekehrten Metamorphose, verlieren innerhalb sicher verschlossener Kokons ihre Flitterflügel und schlüpfen, wird er gesprengt, als etwas aus, daß man des Nachts über die Haut krabbeln spürt; ausschließlich Fotografien fangen, wie man in primitiven Kulturen glaubt, eine Scherbe der Seele des Abgebildeten ein, doch auch er ist nur jenen erinnerlich, die beim Fotografieren zugegen sind.
    »Joanna?«
    Jake erschreckte mich, als er am Eingang meines Büros an den Türrahmen klopfte; er stand da, als suchte er daran Halt, fürchtete er sich, ohne Aufforderung einzudringen.
    »Kommen Sie herein, Jake. Geht klar.«
    »Warum 'n neuer Wech?« fragte er, trat vorsichtig ein, als wäre er darüber im ungewissen, wer außer mir im Zimmer sein könnte.
    »Weil er vor mir liegt«, antwortete ich, stellte meine Handtasche unter den Schreibtisch. Darin befanden sich Schnappschüsse, Kämme, zwei Dutzend Kreditkarten, mein Make-up, einhundert Neue Dollars sowie mein Führerschein: Meine weltlichen, allesamt entbehrlichen Besitztümer. »Willst du Adieu sagen?«
    »Se runterbegleiten«, sagte er. Inzwischen trug er, fiel mir auf, einen neuen Verband, man hatte den Zeigefinger neu und ohne offensichtliche gefährliche Zugaben geschient. »Verzeihn Se, was nötich wah.«
    »Gucken Sie nicht so traurig, Jake«, versuchte ich ihn aufzumuntern. »Sonst kriegst du nur Dackelfalten. Du hast getan, was du mußtest.« Ich hatte von ihm, wie er da wartete, den Eindruck, als überlegte er, weshalb er mir widersprechen sollte. Ich führte meine überflüssigen Akten dem Aktenvernichter zu.
    »Ich werd Se unmäßich vermissen«, sagte Jake.
    »Bestimmt wird Gus dir mehr als ich fehlen.«
    »Nee«, widersprach er. »Wat Zeit verplempern, wo tote Hose is?«
    »Da hast du recht.«
    »Ham Se's geahnt?« fragte Jake. »Daß se Macaffrey plätten?«
    »Um es abzuwenden, war es schon zu spät, bevor es passierte. Verstehen Sie, was ich meine?« Er nickte.
    »Un wat nu?«
    »›Verlaß die Stadt‹«, sagte ich. »›Geh einem lautren Leben nach.‹ ›Was von Kraft mir bleibt, ist mein.‹«
    Jake erkannte die Zitate und lächelte. »Fliegen Se?« fragte er.
    »Wüßten Sie etwas Besseres?«
    Er grinste und sah dabei wie ein jüngeres Bürschchen aus, als er je wieder eines sein konnte. Das Dryco-Gebäude hatte hermetisch abgedichtete Fenster, damit im Fall eines Versagens der Klimaanlage das ganze Haus bald eine noch unerträglichere Stätte werden mochte, als es ohnehin einen unausstehlichen Ort abgab. Während Jake sich auf die Couch setzte, ging ich ans Bürofenster; es hatte keine auch nur entfernt so großflächige Scheiben, wie Thatchers Fenster sie aufwiesen. Die Vorhänge hatte man kurz zuvor in die Wäscherei gebracht.
    »Joanna«, fragte Jake, »was wolln Se machen? Ich werd's für Se …«
    Ich klomm aufs Fensterbrett, stieg in die Ecke zwischen Mauer und Fensterfläche. Indem ich hoch über meinen Kopf hinauslangte, löste ich die Häkchen der Gardine; sie rutschte hinunter. Von meinem neuen Aussichtspunkt überblickte ich Stadt, Land und Meer; sah die Krümmung des Horizonts und den von keinen Dächern gedeckten Himmel.
    »Joanna«, sagte Jake, »nu kommen Se mal wieder bodenwärts. Sonst fallen Se da noch …«
    Lester kam zur Erde, lebte und starb. Wer tat das nicht? Ich hatte es nicht getan.
    »Joanna …!«
    Und so flog ich ganz allein in den Wintermorgen aus. Ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher