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Amarilis (German Edition)

Amarilis (German Edition)

Titel: Amarilis (German Edition)
Autoren: Rainer Kempas
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allerdings im Torschrei
der Fünfzigtausend unter.
     
     
     
    Der Raum war nicht besonders hell. Ein schwerer Vorhang
verdeckte das niedrige Fenster. Nur seitlich der Wand dämmerte ein dünner
Strahl diffusen Lichts herein, in dem Staubwolken bei jeder Bewegung der Bewohner
hektisch durcheinander wirbelten.
       Das matte Licht der schirmlosen Birne diente ebenso wenig
dazu, die Gegenstände des Zimmerchens sichtbarer zu machen. Auf einem hölzernen
Tisch lagen zwei Bücher über metaphysische Meditation. Davor war eine kleine,
verzierte Schatulle mit gelben Pillen. Auf dem Fußboden standen mehrere
Weinflaschen.
       Es herrschte kaum Ordnung in diesem Raum, aber er barg auch zu
wenige Dinge, um ein völliges Durcheinander zu gestatten. Die drei Jungen, die
auf Matratzen auf dem Parkett saßen, schienen zudem keinen Wert auf ein zusätzliches
Mobiliar zu legen.
       Stumm hockten sie da und stierten beinahe andachtsvoll vor
sich hin. Keiner regte sich, noch schienen sie selbst einander wahrzunehmen.
Lediglich ein großer, kräftiger Bursche, der schon etwas älter wirkte, zuckte
mit dem Kopf und stand plötzlich auf. Beinahe apathisch stieg er über die anderen
hinweg und griff sich eine Art Gitarre, deren drei Saiten er nun zu spielen
begann. Mit dem rechten Fuß drückte er dabei einen Blasebalg, der zu dem
Klangkörper des Instruments führte und dadurch den Saiten einen hohen,
säuselnden Ton entlockte. Diese selbst waren in einer Terz gestimmt, wie
feststehende Akkorde. Dadurch flossen die Harmonien ineinander über.
       Die Melodie mutete wie ein Elfentanz, und ihre Musik schien
sich einzig in den Hirnen der drei abzuspielen, deren Töne ihre Gedanken waren,
deren Rhythmus ihre Träume vorantrieb und sich in die Zwischenräume ihres Bewusstseins
setzte, bis die Harmonien letztlich das Verständnis ihrer selbst zu werden begannen.
Ihre Gedanken waren nun die Musik, und die Melodie ihre Gefühle, eine Bewegung
von Erinnerung. Und es war auch immer nur das eine Lied, das ihrer
Vergangenheit.
       Gobo konnte die Gitarre nur spielen, wenn er die Pille nahm.
Sie schaltete sein Bewusstsein fast völlig aus, ließ ihn der Welt entfliehen
und trieb ihn durch die Unendlichkeit des Universums. Dort war er ungebunden,
frei und selbst unendlich geworden. Dort konnte er daran gehen, das zu tun, was
allein ihm gefiel, wo er der Regisseur war, ebenso wie sein einziger Kameramann
und Darsteller. Dort war er zwar allein, aber es war auch niemand da, der ihm
seinen Traum fortnehmen konnte.
       Es war kein Schlafen, und es war kein Wachsein. Der Zustand
kam eher dem Tagträumen gleich, wie ein Film mit eigenen Sinneswahrnehmungen,
Gefühlen, Augen, Ohren und Händen. Es war ein Kino, in dem er das sein konnte,
was er niemals war, und in dem er niemals das sein brauchte, was er sonst stets
bedeutete.
       Es war das Traumkino, und es bestand nur in einer kleinen,
gelben Pille. Ein bequemer Spaß, aber kein billiger. Zumal nicht für die drei,
die sich inmitten der Wohnsilos aus der Not der Einsamkeit zusammengefunden
hatten. Sie hatten keine Arbeit, und sie hatten keine Ziele. Deshalb besaßen
sie auch kein Geld. Schon gar nicht für die Superpille, deren Chemie ihre Sinne
betäubte und gleichzeitig öffnete. Aber sie legten keinen Wert darauf, über
ihren Zustand nachzudenken, der sie in Sklaverei hielt, und ihnen doch die
Freiheit der Entrückung gab.
       Gobo hörte mit einem Mal auf und schloss die Augen. Die Musik
hatte ihn erneut zu einem Gefühl animiert, dem er für sich nachgehen wollte.
Schnell griff er ein weiteres Mal zu der bunten Schatulle, um nicht die Ahnung
zu verlieren. Der neue Traum setzte sich in seinen Kopf. Langsam streckte er
sich auf der Matratze aus. Dabei stieß sein Fuß an eine Weinflasche, dass diese
hell erklirrte.
       Der Ton ließ den zweiten der Jugendlichen aufgucken und eine
Weile irritiert zum Freund starren. Dann fiel er wieder teilnahmslos in sich zusammen.
Seine braunen Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Die kleine, nach oben
gebogene Stubsnase begann ein wenig zu zittern, als sich sein Film erneut
einstellte.
       In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Zunächst schien
es, als ob keiner von ihnen das Geräusch bemerkte. Doch dann stand der Junge
mit der Himmelfahrtsnase auf. Es gelang stets, den Film wieder zurückzuholen.
Spätestens mit einer neuen Pille.
       Außerdem kannten sie dieses Signal. Es kam von dem, der ihnen
diese Flucht aus der Wirklichkeit
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