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Amarilis (German Edition)

Amarilis (German Edition)

Titel: Amarilis (German Edition)
Autoren: Rainer Kempas
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Er konnte sie nicht sehen, denn Augen besaß er nicht.
Aber er konnte sie hören - nicht mit seinen zwei Ohren, sondern mit seinem
Horn. Damit schnupperte er nun etwas an dem pyramidenähnlichen Gebilde herum
und tauchte dieses dann tief darin ein. Dabei füllten sich die Kammern der Röhre
mit einer streng riechenden Flüssigkeit, bis diese sich fast geschwulstartig
dehnten. Befriedigt atmete Aurelazo durch, warf den Kopf zurück und stieß die
Luft in einem trompetenartigen Ton durch das nasenähnliche Gewölbe. Dieses
geschah fast unbewusst, wie aus einem magischen Drang heraus, und es wäre ihm
auch schwer gefallen, sich die Reaktion selbst zu erklären. So fühlte er nur
eine große Lust in sich aufkommen, eine Lust, die sich in seinem ganzen Bauch
ausbreitete, und die unbedingt mit der Flüssigkeit aus dem Dreieck in Zusammenhang
zu bringen war.
       In einer weiteren großen Halle traf er auf Lamborella und
Ambrusto, die mit ihrem Kind Jorelanka unterwegs waren. Gemeinsam gingen sie zu
den Eiern.
       ‚Ich hab wohl wieder etwas genommen. Da wird viel Lust sein,
kommt Riorresia. Vielleicht wir alle zusammen’, sagte Aurelazo, und es geschah
selten, dass es so viel gleichzeitig war.
       Während er sich über die fünf kleinen Eier legte, um sie zu wärmen,
gingen die anderen drei zu einem großen Beet voller Wurzeln, deren Triebe so
stark und dick waren, dass die Stämme die Höhe ihrer doppelten Körpergröße
erreichten. Um die obersten, saftigsten Knospen pflücken zu können, mussten sie
sich gewaltig strecken, so dass ihr Steißbein mit der Wirbelsäule fast eine
Gerade zum Kopf bildete. Mit ihren langen Armen sammelten sie hochaufgerichtet
die Frucht der Dunkelheit, während ihr kurzer, dicker Schwanz sich auf dem Boden
der Halle abstützte. Er konnte dieses unabhängig von ihrem Gehirn tun, da sich
etwa in Körpermitte ein zweites entwickelt hatte, das zu unwillkürlichen
Reflexen befähigt war.
       Als Riorresia kam, gingen sie zusammen weiter. Ihre Schritte
halten durch die endlose Finsternis, und von überall gesellten sich andere
hinzu. Sie hörten es, und sie rochen es. Und weiterhin hörten sie, wenn einer
stehenblieb und sich ruhig verhielt, das Echo seiner Gestalt in ihren Hörnern.
Denn überall gab es Antworten, wo etwas war. Zwar nicht sichtlich, aber hörbar.
       Mittlerweile war es merklich wärmer geworden, denn die fünf
Geschöpfe kamen dem großen Feuer immer näher. Sie fühlten es bereits kribbeln
in den Windungen ihrer Röhren, denn so war es immer. Ganz in seiner Nähe war
der Geruch der Hitze fast unerträglich intensiv, aber es bedeutete, dass sie es
bald in sich hatten: Das kitzelnde Flimmern, das in ihren Geweihen kreiselte,
sich bis in ihren Bauch fortpflanzte und dort die Magenwände dehnte und
zusammenzog. Bis sie ihre Ekstase in einem gewaltigen Trompetenstoß lautschallend
frei ließen.
       Denn wo die größte Wärme war, bestand auch das höchste
Gefühl. Und da saßen sie jetzt. Schon machte sich das Kribbeln immer deutlicher
bemerkbar, wie vor jedem Posaunieren. Der Schein des Feuers erhitzte ihre Haut
bis zu einer hellen Pigmentierung des Leders. Und obwohl sie es nicht sehen
konnten, fühlten sie sich doch der ewigen Dunkelheit enteilt, stießen über die
Grenzen von Amarilis hinweg bis zu den unendlichen Weiten des Kosmos vor und
erlangten eine Erleuchtung, die ihnen nur das Licht vieler Sonnen verleihen
konnte.
       In diesem Augenblick explodierte ein Fanfarenstoß aus tausend
Kehlen und ließ die Riechhörner in schweren Tönen erzittern. Aus der hohen
Halle schwang das Echo von den erhellten Wänden und bäumte sich in den engen
Gängen bis hinauf zu den Ursprüngen des Lebens. Zu der Quelle ihres Daseins,
die einst ihre Art rettete, sie erhielt, und die auch allein nur dieses einmalige
Inferno hervorzuzaubern vermochte.
       Und das war die Pflanze.

II
     
     
     
    Steff spürte den hellen Kunststoff des Hörers kühl in seiner
Hand. Um die Leitung zu belegen, schob er eine Geldkarte in den schmalen
Schlitz. Sogleich öffnete sich die Lade der Wähltastatur. Die Leichtdrucksensoren
der Nummern spiegelten sich in der starren Folie der Seitenscheibe. Leise
tutete das Freizeichen.
       ‚Er muss hier irgendwo sein’, dachte er’ ,denn sonst könnte
er nicht wissen, wann ich hier bin.’ Unwillkürlich schaute er zu den
Fensterreihen der Wohntrakte unter ihm. Die durchsichtigen Kunststoffverbindungen
zwischen den 5., 10. und 15. Etagen der Häuser
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