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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume
Autoren: Thomas Jeier
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»Lass die Krücken am Bett stehen«, sagte er, »in zwei oder drei Tagen bin ich so weit.«
    In der folgenden Nacht schlief Molly unruhig. Sie träumte von einem Raben, der sich krächzend aus einem Gebüsch erhob und mit leuchtendem Gefieder nach Süden flog. Er war mit den bösen Geistern im Bunde und erzählte den Comanchen, die vor beinahe drei Wochen die Poststation überfallen hatten, von einer jungen Weißen, die den alten Mann gerettet und sich im Haus der Toten einquartiert hatte. Ihr rötliches Haar würde einen perfekten Skalp abgeben und wäre ein willkommener Schmuck in jedem Tipi. Sie verfluchte den Raben, schrie ihm nach, er solle sich gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, doch der Rabe hörte sie nicht und beobachtete zufrieden, wie die Krieger auf ihre Pferde stiegen und nach Norden ritten. Über ihnen leuchtete der volle Mond, der »Comanchen-Mond«, wie sie in Texas sagten.
    Noch vor Sonnenaufgang erwachte sie. Auch der Oldtimer war bereits wach und hatte den Vorhang zur Seite geschoben. Er griff nach den Krücken und wollte aufstehen, aber Molly hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Sie erhob sich von ihrem Lager, das sie auf zwei Büffelfellen außerhalb des Vorhangs eingerichtet hatte, zog Rock und Bluse an und schlüpfte in ihre Stiefel. Ihre Haare ließ sie offen. Sie wechselte einen raschen Blick mit Buddy, der aufrecht im Bett saß und sich wahrscheinlich nach einer Waffe sehnte.
    Vorsichtig spähte sie aus dem Fenster. Am östlichen Horizont zeigte sich bereits der erste Schimmer, aber der Mond stand immer noch groß und bleich am Himmel und tauchte das Land in gespenstisches Licht. Kein Windhauch regte sich. Wie erstarrt lag die Natur unter dem nächtlichen Himmel und es war so still, als wäre alles Leben über Nacht erloschen. Selbst die Sonne schien heute einen Augenblick innezuhalten und zu überlegen, ob sie ihre tägliche Wanderung beginnen sollte.
    »Sei vorsichtig!«, warnte der Oldtimer.
    »Ich muss es versuchen«, erwiderte sie leise.
    Sie griff nach der Sharps, die wie immer frisch geladen war, zog den Hahn zurück und öffnete die Tür. Ungefähr zwanzig Comanchen warteten vor dem Haus. Ihr Magen hob sich und ihr wurde beinahe übel, als sie die Krieger auf ihren Pferden sitzen sah. Doch sie ging weiter und versuchte, keine Angst zu zeigen. »Nichts schätzen die Comanchen so sehr wie tollkühnen Mut«, hatte ihr Roy Calhoun in Santa Fe einmal verraten. Nur diese Worte und die Hoffnung auf ein neues Leben mit Bryan ließen sie vor die Indianer treten.
    Ihre Knie waren weich und das Gewehr lag wie Blei in ihren Händen, als sie dem Anführer in die Augen blickte. Er saß aufrecht im Sattel, ein kräftiger Mann mit ausgeprägten Muskeln und einem kantigen Gesicht mit dunklen Augen und schmalen Lippen, die einen eisenharten Willen erkennen ließen. Er war lediglich mit einem Lendenschurz und Mokassins bekleidet. Seine langen schwarzen Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten und an der ebenfalls geflochtenen Skalplocke hing eine einzelne Adlerfeder. Von seinen Ohren hingen große silberne Ringe herab. Als ihn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne erreichten, erkannte Molly die ockerrote Farbe in seinem geraden Scheitel.
    »Ich bin Molly Campbell«, zwang sich Molly zu sagen. Auch die anderen Indianer, besonders der arrogante Krieger, der sein Pferd neben den Anführer gedrängt hatte und sie verächtlich anblickte, sahen gefährlich aus. »Ich bin die neue Posthalterin. Ich versorge die Passagiere, die mit der Kutsche kommen.«
    »Ich bin Quohada ... die Weißen nennen mich Bärenohr.« Der Anführer sprach ein erstaunlich akzentfreies Englisch, das er anscheinend auf einer Missionsschule gelernt hatte. Wie alle seine Krieger hatte er seine Waffe, ebenfalls eine Sharps, schussbereit über dem Sattel liegen. Er deutete auf die offene Haustür. »Du hast den alten Mann gesund gepflegt?«
    »Das war meine Christenpflicht.«
    »Die Männer sind nicht geblieben.«
    »Sollte ich den alten Mann vielleicht sterben lassen? Würdest du einen verletzten Krieger zurücklassen? Ich habe keine Angst vor euch.«
    »Wir sind Nokoni.«
    »Nokoni?«
    »Wanderer«, erklärte er, »wir folgen den Büffeln, die zu Tausenden über dieses Land ziehen, und dem Wind, der uns dort lagern lässt, wo wir uns am wohlsten fühlen. Wir sind der tapferste Stamm der Numunu ... Comanchen.«
    »Dann bin auch ich eine Nokoni.« Molly wusste selbst nicht, woher sie den Mut für ihre Antworten
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