Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume
Autoren: Thomas Jeier
Vom Netzwerk:
geflohen, andere nach Amerika oder Australien ausgewandert und zu viele auf den Straßen am Hunger gestorben. Sie hatten die wenigen Pennys, die ihnen geblieben waren, für den Mais ausgegeben, den die Regierung aus Amerika herangeschafft hatte. Einen ganzen Penny hatten die Halsabschneider für das Pfund verlangt. Keiner war das seltsame Gemüse gewohnt und sie hatten alle Durchfall davon bekommen, sich nur allmählich an den eigenartigen Geschmack gewöhnt. Doch der Mais hatte sie vor dem Hungertod gerettet.
    Dann war das importierte Gemüse immer teurer geworden und im Juni ganz ausgeblieben. Seitdem lebten sie von Wurzeln und Waldbeeren, die Molly und ihre vier Jahre jüngere Schwester Fanny in den Wäldern sammelten. Ihre Mutter arbeitete von früh bis spät auf den Äckern. Ihr Vater war nach der ersten Kartoffelfäule fortgegangen, angeblich um beim öffentlichen Straßenbau im Norden ein paar Pennys zu verdienen, war aber nicht zurückgekehrt. Entweder war er gestorben oder er hatte seine Familie im Stich gelassen. Molly vermisste ihn kaum. Er war ein ungerechter und jähzorniger Mann, der die Schuld immer bei anderen gesucht und seinen ganzen Zorn an ihrer Mutter ausgelassen hatte. Sie hatten seinen Namen schon lange nicht mehr erwähnt.
    Molly rieb sich die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Wütend warf sie die verfaulte Kartoffel auf den Boden. Ihre blasse Haut und ihre rötlichen Haare leuchteten in der schwachen Sonne. Auch die Hungersnot hatte es nicht geschafft, den feurigen Glanz aus ihren grünen Augen zu vertreiben, ein Beweis für ihr zuweilen ungezügeltes Temperament, das sie öfter mal über das Ziel hinausschießen ließ und zahlreiche junge Männer erschreckte, die ihr sonst vielleicht den Hof gemacht hätten. Ihr Körper war ausgemergelt von den Entbehrungen der letzten Monate, doch mit etwas Fantasie konnte man sich gut vorstellen, wie attraktiv sie bei ausreichender Ernährung und in einem sauberen Kleid aussehen würde. Nicht so verführerisch wie ihre Schwester, die jedem männlichen Wesen den Kopf verdrehte, das musste sie selbst zugeben, aber hübsch genug, um von den Männern bewundert zu werden.
    Verächtlich trat sie mit den nackten Füßen auf die verfaulte Kartoffel. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, deuteten an, dass sie noch immer stark genug war, um sich gegen ihr Schicksal aufzulehnen. Aber was war mit ihrer Mutter, die in letzter Zeit noch anfälliger für Krankheiten geworden war? Was mit ihrer Schwester, die wesentlich schwächer als sie war und kein weiteres Jahr ohne ausreichendes Essen durchhalten würde? Im letzten Jahr hatte sie der Mais durch den Winter gebracht, aber woher sollten sie diesmal etwas zu essen bekommen? Ihre kargen Ersparnisse waren aufgebraucht und während der kalten Jahreszeit kamen sie weder an Wurzeln noch an Waldbeeren heran. Die Engländer hassten die Iren und würden ihnen bestimmt nicht helfen.
    Sie kehrte zum Haus zurück, einer armseligen Hütte ohne Fenster, die ihr Vater aus Lehm und Schottersteinen erbaut und mit einem undichten Dach aus Grassoden versehen hatte, das kaum den Regen abhielt. Sie wohnten und schliefen im einzigen Raum, zusammen mit den beiden Schweinen, die der Mittelsmann des Landbesitzers in Kürze abholen würde, schwitzten im Sommer und froren im Winter und atmeten die stickige Luft, die sich vor allem nachts darin sammelte. Es war ihnen streng verboten, einen der Bäume auf ihrem Land zu fällen, und man hätte sie ins Gefängnis geworfen oder in eine Sträflingskolonie nach Australien geschickt, wenn sie sich an dem Futter für die Schweine vergriffen oder eines der Tiere geschlachtet hätten. Nicht einmal das schäbige Haus gehörte ihnen, obwohl ihr Vater es eigenhändig erbaut hatte. Katholiken durften keinen Besitz haben.
    Ihre Mutter und ihre Schwester erschienen vor der Tür und erkannten wohl schon von Weitem, dass sie keine gesunde Kartoffel gefunden hatte. Also würde es wieder nur den wässrigen Wurzelsud geben, von dem sie schon die ganze Woche aßen und der jeden Tag dünner wurde. Die Hoffnung, dass eine oder mehrere Kartoffeln von der Plage verschont geblieben waren, würden sie dennoch nicht aufgeben und Molly würde auch am nächsten Morgen wieder die Furchen ihres Ackers ablaufen.
    »Nichts«, sagte sie, als sie in Hörweite ihrer Mutter und Schwester war.
    Ihre Mutter nickte schwach. Das Feuer in ihren Augen war längst erloschen und sie wirkte wesentlich schwächer und ausgezehrter als ihre
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher