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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume
Autoren: Thomas Jeier
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ihrer Mutter. »Wenn es einen gäbe, würde er niemals solches Leid zulassen.« Sie blickte auf die wimmernden Kranken, presste die Lippen zusammen, als sie bemerkte, wie ein alter Mann stöhnend und mit ausgestreckten Armen auf sie zukroch, und wandte sich rasch ab. »Warum, Herr Pfarrer? Warum das alles?«
    »Die Wege des Herrn sind unergründlich«, zitierte der Pfarrer aus der Bibel. Auch er schien keine einleuchtende Erklärung für das viele Leid zu haben. »Selbst Jesus Christus musste leiden, bevor er das Paradies betreten durfte. Vertraut ihm, meine Schwestern! Gott ist stark und mächtig genug, um uns von diesem Übel zu erlösen. Betet zu ihm, betet den Rosenkranz, und er wird uns das Licht schicken, das am Ende dieses dunklen Weges auf uns wartet.«
    »Amen«, erwiderte Rose Campbell rasch.
    Sie verabschiedeten sich mit einem Kopfnicken von dem Pfarrer und stiegen den Hügel zur Straße hinab. Auf der Hauptstraße wandten sie sich nach Norden. Vom Schlachthaus trieb beißender Gestank herüber, nicht viel besser als der Geruch, der ihnen aus der Kirche entgegengeströmt war. Alles Fleisch, das dort verarbeitet wurde, wanderte auf die Frachtschiffe nach England. Soldaten begleiteten jeden Transport, um ihn vor Überfällen hungriger Bürger zu beschützen. Einen solchen Überfall hatte es im vergangenen Jahr gegeben, zwei Angreifer waren verwundet liegen geblieben und später gestorben. Auch das wussten sie von dem Wanderarbeiter, der eine Weile bei ihnen untergekrochen war und ihnen aus der Zeitung vorgelesen hatte. Seltsamerweise konnte er lesen, für einen Mann seines Standes eine Seltenheit und ein Glücksfall für Molly und Fanny, die einiges von ihm gelernt hatten. »Und was nützt euch das, wenn ihr mit einem einfachen Farmer verheiratet seid?«, hatte ihre Mutter gefragt. »Lernt lieber, wie man eine Hose oder Jacke stopft.«
    Weder Molly noch Fanny hatten vor, einen Farmer zu heiraten, und sagten lediglich: »Schaden kann es nicht.« Fanny träumte von ihrem Edelmann und Molly war sich nicht sicher, ob sie überhaupt jemals heiraten würde. Sie war mit ihren zweiundzwanzig Jahren schon beinahe über das Alter hinaus, in dem eine junge Frau normalerweise heiratete, und hatte auch nie verstanden, warum manche Frauen einen Mann ehelichten, nur um ausreichend versorgt zu sein. Spielten denn Liebe und Zuneigung überhaupt keine Rolle? Sie hatte sich geschworen, nur einen Mann zu heiraten, den sie wirklich liebte. »Und von was willst du dann leben?«, hatte ihre Mutter gefragt. »Glaubst du vielleicht, eine alleinstehende Frau bekommt Arbeit und Unterkunft?« Auf diese Frage wusste Molly noch keine Antwort.
    Sie ließen die Stadt hinter sich und liefen über die Wagenstraße weiter nach Norden. Die Sonne stand bereits im Westen und kam kaum noch hinter den dichter werdenden Wolken zum Vorschein. Dunkle Schatten lagen über den sanften Hügeln, die sich rings um die Stadt erhoben. Wie ein stummer Wächter ragte der Croagh Patrick im Westen empor, ein mächtiger Berg, in dessen Höhlen gefährliche Ungeheuer leben sollten, so erzählte man sich in der Gegend. Die Straße, eine halbe Meile vor der Stadt nicht mehr gepflastert und nicht mehr als ein holpriger Feldweg, wand sich in zahlreichen Kurven über die Hügel und führte auf einen Wald zu, der seit vielen Jahren als Unterschlupf für Wegelagerer und Strauchdiebe galt. Einen anderen Weg gab es nicht. Abseits des Waldes erstreckte sich violettes Moorgras bis in die Ferne.
    Doch Molly, Fanny und ihre Mutter erschreckte ein ganz anderer Anblick. Ungefähr eine Meile nördlich von Castlebar erhoben sich die dunklen Mauern des Arbeitshauses. Drei spitze Giebeldächer krönten das breite Eingangsgebäude, dahinter ragten die Dachfirste von zwei weiteren Gebäuden hervor, beide durch schmale Verbindungsbauten mit dem Frontgebäude verbunden. Nicht einmal Rose Campbell war bisher so weit nördlich der Stadt gewesen, obwohl sie schon seit ihrer Kindheit in der Grafschaft lebte, und zeigte sich ähnlich betroffen wie ihre Töchter, die mit großen Augen auf das Gebäude blickten.
    »Es ist ... so groß«, flüsterte Fanny.
    »Wie ein Gefängnis«, sagte Molly.
    Sie gingen langsam an dem Arbeitshaus vorbei. Die Gebäude waren von einer hohen Ziegelmauer umgeben, welche die Bewohner nicht am Verlassen des Arbeitshauses hindern, sie vielmehr vor den Blicken der Städter verbergen sollte, die sich durch ihre Gegenwart belästigt fühlten. Das erfuhren sie aber
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