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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume
Autoren: Thomas Jeier
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erst später, als sie selbst zu den Insassen gehörten. Vor dem Haupteingang, über dem etwas in großen Lettern stand, das auch Molly und Fanny nicht entziffern konnten, lagerten mehrere Familien und warteten auf Einlass. In ihren Lumpen waren sie nur unzureichend gegen Wind und Wetter geschützt. Die meisten stöhnten vor Schmerzen und lagen erschöpft auf dem nackten Boden, den Blick verzweifelt auf den Eingang des Hauses gerichtet.
    Etwas abseits und anscheinend zu schwach, um das Eingangstor zu erreichen, entdeckte Molly eine junge Mutter mit ihrem Baby. Sie hockte im Gras und presste den kleinen Körper in einen schmutzigen Lumpen gewickelt an ihre Brust. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, die Haut war fleckig und am Hals und im Gesicht entzündet, die Haare schmutzig und strähnig. »Mein Baby! Mein Baby!«, flüsterte sie monoton vor sich hin. »Mein Baby, mein Baby!«
    »Was ist mit dem Baby?«, fragte Molly freundlich.
    »Gott hat uns verlassen.«
    Molly zog vorsichtig einen Lumpen vom Kopf des Babys und sah, dass es tot war. Seine Haut war schwarz verfärbt, sein Körper so ausgemergelt und mager, dass es kaum noch als menschliches Wesen zu erkennen war. Vorsichtig deckte Molly den Kopf wieder zu. »Es tut mir leid«, sagte sie zu der Frau. In einer spontanen Geste nahm sie ihre Wolldecke herunter und legte sie der Mutter um. Mit den dunklen Flecken hatte auch sie nicht mehr lange zu leben.
    Benommen kehrte sie zu ihrer Mutter und ihrer Schwester zurück. Sie umarmte die beiden. »Das Arbeitshaus lässt keine Kranken herein«, sagte sie.
    »Gott sei ihren armen Seelen gnädig«, erwiderte ihre Mutter.

3
    Der Anblick der vielen Kranken, die nicht in dem Arbeitshaus bleiben durften, stimmte die drei Frauen traurig. In der Gewissheit, nichts für die armen Menschen tun zu können, liefen sie weiter, darum bemüht, ihr Jammern und Stöhnen so schnell wie möglich aus den Ohren zu bekommen.
    Molly fror ohne ihre Wolldecke, ließ sich aber nichts anmerken. Sobald sie den Wald erreicht hatten, würden sie vor dem frostigen Wind geschützt sein. Während der ersten Hungersnot sollte es Menschen gegeben haben, die den ganzen Winter im Wald verbracht hatten, sich von Nüssen und Eicheln, Kräutern und getrockneten Beeren, sogar von Brennnesseln ernährt und tatsächlich überlebt hatten, auch wenn einige krank geworden und im Frühjahr gestorben waren. So hatte man es sich jedenfalls auf dem Marktplatz erzählt. Bis sie sich im Klaren darüber waren, wie sie vorgehen sollten, würden sie ihr Lager im Unterholz aufschlagen und darauf hoffen, dass der Winter noch eine Weile auf sich warten ließ, auch wenn der kühle Wind das Gegenteil ankündigte.
    »Ich will nicht ins Arbeitshaus«, entschied Fanny, noch bevor sie den Wald erreichten. »Wenn du da mal drin bist, kommst du nie wieder raus. Du musst von morgens bis abends die größten Drecksarbeiten verrichten, und wenn du gegen ihre Vorschriften verstößt, sperren sie dir das Essen oder sie peitschen dich aus und werfen dich in ein Verlies. Hab ich jedenfalls gehört.«
    »Die Leute reden viel.« Rose Campbell, die vor einigen Stunden noch dafür gewesen war, das Arbeitshaus aufzusuchen, war sich nicht mehr sicher. Auch ihr lastete der Anblick der vielen Kranken schwer auf der Seele. Gab es denn keine Krankenstation im Arbeitshaus? Setzten sie einen auf die Straße, wenn man zu schwach zum Arbeiten war? »So schlimm ist es sicher nicht.«
    »Ich hab eine bessere Idee«, sagte Molly. Die Begegnung mit der jungen Mutter und ihrem toten Baby hatte sie traurig gestimmt, ihr aber nicht den Willen genommen, sich gegen die Hungersnot aufzulehnen. »Wir übernachten im Wald und ziehen morgen zum Croagh Patrick weiter. In seinen Ausläufern soll es Höhlen geben. Wenn wir ein Feuer in Gang kriegen und was zu essen finden, können wir dort wochenlang durchhalten. Da sind bestimmt noch andere Farmer. Sobald wir erfahren, dass neuer Mais aus Amerika gekommen ist, gehen wir in die Stadt und holen uns Vorräte für den Winter.«
    »Und wie willst du das anstellen?« Ihre Mutter war skeptisch. »Wir haben kein Geld mehr, um Mais zu kaufen. Umsonst geben die Engländer ihn bestimmt nicht her. Vier Pennys das Pfund haben sie letzten Winter verlangt. Wir besitzen nicht mal einen. Damit kommen wir nicht weit, Molly.«
    Molly erkannte, wie wenig Hoffnung ihre Mutter hatte, und versuchte, sie mit einem Lächeln aufzumuntern. Es fiel ihr schwer. »Wer weiß, was bis dahin passiert,
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