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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume
Autoren: Thomas Jeier
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zu lassen. Mit einem stillen Gebet fing sie an.
    Sie packte die Kleider aus ihren Taschen in den Schrank und wog die schwere Sharps Rifle in den Händen. Würde sie damit auf einen Indianer schießen können? Sie lehnte das Gewehr an die Wand neben der Tür, um es im Notfall sofort griffbereit zu haben, und legte die Schachtel mit den Patronen in die oberste Schublade der Kommode. Roy Calhoun hatte ihr beigebracht, mit der Waffe zu schießen, und sie konnte einigermaßen damit umgehen. In diesem Land brauchte man ein Gewehr, nicht nur wegen der Indianer. Es diente auch dazu, wilde Tiere vom Haus fernzuhalten und für Nahrung zu sorgen. »Ein Büffel reicht für den ganzen Winter«, hatte Calhoun ihr verraten.
    Ihr blieben nur die Vorräte des Stationsagenten und seiner Frau. Mit einigen Rüben und dem Speck, den sie im Vorratsschrank fand, setzte sie genug fette Brühe für die nächsten zwei oder drei Tage auf. Im Ofen backte sie einige Biskuits, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Als beides fertig war, dämmerte es. Sie trat mit dem Sharps-Gewehr vors Haus und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Wie loderndes Feuer lag das Licht der untergehenden Sonne über dem weiten Land und brachte es zum Glühen. Ein bedrohlicher und zugleich wunderschöner Anblick. Molly wohnte dem Schauspiel bei, wandte den Blick erst ab, als die letzte Glut vor den Schatten kapitulierte und das weite Land in tiefer Dunkelheit versank.
    »Molly, du bist verrückt«, sagte sie, als sie ins Haus zurückging.

30
    Jeden Morgen trat Molly mit ihrem Sharps-Gewehr vor die Tür des Stationshauses. Solange der Himmel klar oder nur leicht bewölkt war, genoss sie das Schauspiel der aufgehenden Sonne und beobachtete, wie die ersten Strahlen am fernen Horizont aufblitzten und leuchtende Schleier über das Land warfen. Wenn der Himmel verhangen war wie an diesem Morgen und ihr der Wind leichten Regen ins Gesicht trieb, atmete sie die würzige Luft ein und dachte daran, wie sehr sie sich in der alten Heimat gefreut hatten, wenn nach einer langen Trockenheit der ersehnte Regen auf den Acker gefallen war.
    Während der ersten Tage war sie nicht sicher gewesen, ob sie in der Ferne nur nach feindlichen Comanchen oder auch nach Bryan suchte. Er geisterte öfter als zuvor durch ihre Träume und nährte ihre Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen, obwohl nur eine sehr geringe Chance bestand, dass er der Polizei in New York entkommen war, und es nach seinem Brief beinahe aussichtslos schien, dass er seine Angst, sie ebenfalls zu gefährden, endlich überwand und ihr nach Westen folgte. Ihre Liebe war stärker, hoffte sie, und würde alle Hindernisse überwinden. Eines Tages würde er kommen, und wenn es zwanzig Jahre dauerte. Sie würde auf ihn warten ... hier in Texas.
    Zu ihrer großen Freude besserte sich der Gesundheitszustand des alten Mannes. »So hab ich mir das Jenseits immer vorgestellt«, sagte er, als er zum ersten Mal die Augen öffnete. Seine Stimme klang brüchig und die Worte kamen langsam über seine Lippen. »Haben Sie mich zusammengeflickt?«
    »Ich war mal Näherin«, antwortete sie lächelnd.
    Sie fütterte ihn mit der kräftigen Brühe, die sie auf dem Herd stehen hatte, und gab ihm frisches Wasser zu trinken. Nach Tee hatte sie in den Vorratsregalen vergeblich gesucht. Jedes Mal, wenn er die Augen öffnete, kümmerte sie sich um ihn. Sie wechselte seine Verbände, schmierte die Wundränder vorsichtig mit der fettigen Salbe ein, die sie ebenfalls in einer Schublade gefunden hatte, und gab ihm zu essen und zu trinken. Zuversichtlich beobachtete sie, wie er immer stärker und kräftiger wurde. Er würde nicht sterben, war »dem Teufel noch mal von der Schippe gesprungen«, wie er sich ausdrückte, wäre am liebsten schon nach zwei Wochen aufgestanden. »Ich bin nicht zum Faulenzen hier, Miss Molly, und jetzt, wo Chester und Hannah tot sind ...« Sie hörte die Namen des Stationsagenten und seiner Frau zum ersten Mal. »Ich hab noch nicht mal ihre Gräber gesehen. Habt ihr sie neben dem Haus begraben?«
    »Bei den Bäumen drüben.« Sie deutete aus dem Fenster.
    »Da war ihr Lieblingsplatz«, erwiderte der Oldtimer. Er hatte Tränen in den Augen. »Sie standen jeden Abend bei den Bäumen, als gäbe es dort etwas Besonderes zu sehen. Er rauchte seine Pfeife und sie lächelte meist. Ich glaube, unter den Bäumen erinnerten sie sich an ihre alte Heimat in Schottland.«
    Der Oldtimer brauchte einige Tage, bis er die Kraft fand, von dem
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