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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand
Autoren: Ian McEwan
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wie man küßt, hatte ihn reingelegt, ihn ausgetrickst, durfte niemand wissen, mußte sein Geheimnis bleiben, daß sie ihn geheiratet und dann verschmäht hatte, das war ungeheuerlich ...
    Kurz vor dem Morgengrauen stand er auf, ging in das vordere Zimmer, stellte sich hinter seinen Stuhl, schabte die geronnene Bratensoße vom Fleisch und von den Kartoffeln und aß alles auf. Anschließend machte er sich über ihre Portion her -ihm war egal, wessen Teller es war. Danach vertilgte er sämtliche Täfelchen Pfefferminzschokolade und dann den Käse. Bei Tagesanbruch verließ er das Hotel und fuhr mit Violet Pontings kleinem Wagen kilometerweit über schmale, von hohen Hecken gesäumte Landstraßen, während der Geruch nach Mist und frischem Heu durch das offene Fenster drang, bis er dann schließlich auf die leere Hauptverkehrsstraße nach Oxford einbog.
    Er stellte das Auto vor dem Haus der Pontings ab und ließ den Schlüssel stecken. Ohne einen Blick hinauf zu ihrem Fenster eilte er bereits kurz danach mit dem Koffer durch die Stadt, um noch den Frühzug zu erwischen. Vor Erschöpfung wie betäubt, machte er sich dann auf den langen Weg von Henley nach Turville Heath und mied dabei sorgsam jene Route, die Florence im Jahr zuvor genommen hatte. Warum sollte er in ihre Fußstapfen tre-ten? Zu Hause angekommen, weigerte er sich, seinem Vater das Vorgefallene zu erklären. Seine Mutter hatte die Hochzeit längst wieder vergessen. Die Zwillinge setzten ihm mit ihren Fragen und schlauen Vermutungen so lange zu, bis er sie mit ans andere Gartenende nahm und Harriet wie Anne einzeln und feierlich schwören ließ, Hand aufs Herz, daß sie den Namen Florence nie wieder in den Mund nehmen würden. Eine Woche später erfuhr er von seinem Vater, Mrs. Ponting habe, tüchtig, wie sie war, bereits alle Hochzeitsgeschenke zurückschicken lassen. Lionel und Violet beschlossen ohne viel Aufhebens, die Scheidung zu beantragen, da die Ehe nicht vollzogen worden war.
    Auf Anraten seines Vaters schrieb Edward an Geoffrey Ponting, den Vorsitzenden der Ponting Electronics, einen höflichen Brief, in dem er seinen »Sinneswandel« bedauerte und sich entschuldigte, ohne Florence mit einem Wort zu erwähnen, um dann von der angebotenen Stelle zurückzutreten und mit kurzem Gruß zu schließen.
    Etwa ein Jahr später hatte sich seine Wut gelegt, aber er war immer noch zu stolz, um bei ihr vorbeizugehen oder ihr zu schreiben. Er fürchtete, Florence könnte mit jemand anderem zusammensein, und als er nichts mehr von ihr hörte, war er sogar davon überzeugt. Gegen Ende dieses gefeierten
    Jahrzehnts dann, als nicht nur neue Reize, Freiheiten und Moden, sondern auch zahlreiche Affären sein Leben ziemlich anstrengend machten - letzten Endes war er doch noch ein ganz passabler Liebhaber geworden -, dachte er oft an jenen merkwürdigen Vorschlag zurück und fand ihn längst nicht mehr lächerlich, schon gar nicht widerlich oder etwa beleidigend. Unter den veränderten Umständen schien er ihm sogar ziemlich liberal und seiner Zeit weit voraus gewesen zu sein, auf unschuldige Weise großzügig, eine Bereitschaft zur Selbstaufopferung, die er damals überhaupt nicht verstanden hatte. »Mann, was für ein Angebot«, hätten seine Freunde wahrscheinlich gesagt, nur hatte er mit niemandem je über diesen Abend geredet. Ende der sechziger Jahre lebte er längst in London. Wer hätte eine solche Zeitenwende vorhersagen können, diese plötzliche, sorglose Sinnlichkeit, die unkomplizierte Willigkeit so vieler schöner Frauen? Edward streifte durch jene kurzen Jahre wie ein staunendes, zufriedenes Kind, das, von langer Strafe erlöst, sein Glück kaum fassen konnte. Den Plan einer Reihe von Biographien hatte er ebenso aufgegeben wie überhaupt jeden Gedanken an ernsthafte Gelehrsamkeit, dabei hatte es nie einen bestimmten Zeitpunkt gegeben, an dem er eine bewußte Entscheidung über seine Zukunft gefällt hätte. Wie der arme
    Sir Robert Carey ließ er die Geschichte einfach hinter sich, um behaglich in der Gegenwart zu leben.
    Er half, diverse Rock-Festivals zu organisieren, war Mitgründer eines Naturkostlokals in Hampstead, arbeitete in Camden Town unweit vom London Canal in einem Plattenladen, schrieb Konzertbesprechungen für kleine Rockmusikzeitschriften, hatte eine Reihe chaotischer Affären, manchmal mehrere gleichzeitig, machte eine Frankreichreise mit einer Frau, mit der er dreieinhalb Jahre verheiratet war, und wohnte mit ihr in Paris. Anfang der
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