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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand
Autoren: Ian McEwan
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Neuanlage der alten Brunnenkressebeete in Ewelme. Zwei Tage im Monat arbeitete er für eine in High Wycombe ansässige Stiftung, die sich für hirngeschädigte Kinder einsetzte.
    Selbst mit über sechzig Jahren unternahm er,
    ein kräftiger Mann mit schütterem, weißem Haar und rosigem, gesundem Teint, noch lange Wanderungen. Sein täglicher Spaziergang führte ihn durch die Lindenallee, und bei gutem Wetter nahm er die Rundstrecke, um sich die Wildblumen auf der Wiese von Maidensgrove oder die Schmetterlinge im Naturreservat von Bix Bottom anzusehen und auf dem Rückweg durch den Buchenwald an der Kirche von Pishill vorbeizukommen, auf deren Friedhof auch er gewiß eines Tages liegen würde. Manchmal kam er mitten im Wald an eine Weggabelung und fragte sich müßig, ob sie an jenem Morgen im August hier stehengeblieben war, um auf ihre Karte zu schauen; und er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie, nur wenige Schritte und vierzig Jahre entfernt, so unbeirrt auf dem Weg zu ihm war. Oder er genoß an einer anderen Stelle den Blick ins Stonor-Tal und fragte sich, ob sie hier wohl Pause gemacht hatte, um ihre Apfelsine zu essen. Endlich konnte er sich eingestehen, daß er nie wieder jemanden kennengelernt hatte, den er so liebte wie sie, daß er nie wieder jemanden getroffen hatte, Mann oder Frau, der es an Ernsthaftigkeit mit ihr aufnehmen konnte. Wäre er mit ihr zusammengeblieben, hätte er sein Leben vielleicht aufmerksamer und zielstrebiger gelebt, hätte vielleicht sogar die Geschichtsbücher geschrieben. Und obwohl er sich für derlei eigentlich nicht weiter interessierte, wußte er, daß es das Ennismore-Quartett noch gab, daß es als ein Ensemble für klassische Musik noch immer hochgeschätzt wurde. Er wäre nie in eines der Konzerte gegangen, hätte auch nie eine Aufnahme mit dem Quartett von Beethoven oder Schubert gekauft, sie auch nur in die Hand genommen. Er wollte kein Photo von Florence sehen und feststellen, was ihr die Jahre angetan hatten, wollte keine Einzelheiten über ihr Leben wissen. Er zog es vor, sie so in Erinnerung zu behalten, wie sein Gedächtnis sie ihm zeigte, mit Löwenzahn im Knopfloch und Samtband im Haar, die Segeltuchtasche über der Schulter und ihr breites, offenes Lächeln in ihrem schönen, markanten Gesicht.
    Wenn er an sie dachte, staunte er, daß er das Mädchen mit der Geige hatte gehen lassen. Natürlich wußte er längst, daß ihr aufopferungsvoller Vorschlag letztlich bedeutungslos gewesen war. Sie hatte nur die Gewißheit seiner Liebe gebraucht und die Bestätigung, daß keine Eile geboten war, da das ganze Leben noch vor ihnen lag. Mit Liebe und Geduld - hätte er doch bloß beides gehabt - wären sie schon zurechtgekommen. Welch ungeborene Nachkommen hätten dann ihre Chance erhalten, welches junge Mädchen mit Stirnband im Haar wäre sein geliebtes Kind geworden? So kann sich der
    Lauf eines Lebens ändern - durch Nichtstun. Am Strand von Dorset hätte er Florence nachrufen, ihr nacheilen können. Damals wußte er nicht und hätte es auch nicht wissen wollen, daß sie ihn nie stärker, nie verzweifelter als in jenem Moment geliebt hatte, als sie von ihm ging und in ihrem Kummer überzeugt war, ihn zu verlieren, daß der Klang seiner Stimme ihr wie eine Erlösung vorgekommen, daß sie sofort umgekehrt wäre. Statt dessen verharrte er in eisigem, rechthaberischem Schweigen und ließ sie in der einbrechenden Dunkelheit über den Strand davoneilen, während sich das Geräusch ihrer mühsamen Schritte in der Brandung sachter Wellen verlor, bis sie nur noch ein verschwommener, kleiner Punkt auf dem ungeheuer langen, schnurgeraden, im fahlen Licht schimmernden Kieselstreifen war.
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