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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand
Autoren: Ian McEwan
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werde ich.«
    Er wandte sich ab und ging zum Uferrand, kam aber nach wenigen Schritten zurück und trat dabei mit solch ohnmächtiger Wut gegen die Kiesel, daß er einen ganzen Schwung kleiner Steine in die Höhe schleuderte, von denen etliche kurz vor ihren Füßen landeten. Sein Ärger weckte ihren, und plötzlich glaubte sie, das Problem zu begreifen: Sie waren zu höflich, zu verkrampft, zu ängstlich, auf Zehenspitzen schlichen sie umeinander herum, murmelten, flüsterten, gaben nach, stimmten zu. Sie kannten sich kaum und konnten sich auch nicht kennenlernen, weil ständiges höfliches Verschweigen ihre Unterschiede zudeckte und sie nicht nur aneinander fesselte, sondern zugleich auch füreinander blind machte. Sie hatten sich beide davor gefürchtet, jemals unterschiedlicher Meinung zu sein, doch jetzt fühlte sich Florence durch Edwards Wut wie befreit. Sie wollte ihn verletzen, ihn bestrafen, um sich von ihm zu unterscheiden. Dieser Drang war für sie so neu, diese Gier nach Zerstörung, daß sie ihr nichts entgegenzusetzen wußte. Ihr Herz raste, sie wollte Edward sagen, wie sehr sie ihn haßte, und fast hatte sie diese harten, wunderbaren Worte schon ausgesprochen, die nie zuvor über ihre Lippen gekommen waren, als er zu reden begann.
    Er fing noch einmal von vorn an und setzte seine würdevollste Miene auf, um ihr erneut Vorhaltungen zu machen. »Warum bist du weggelaufen? Das war falsch. Und verletzend.«
    Falsch. Verletzend. Wie pathetisch! »Ich hab’s dir doch gesagt«, erwiderte sie. »Ich mußte einfach raus. Ich habe es nicht ausgehalten, noch länger mit dir in einem Zimmer zu sein.«
    »Du wolltest mich demütigen.«
    »Okay, also schön. Wenn du meinst, dann wollte ich dich eben demütigen. Was anderes hast du ja auch nicht verdient, wenn du dich nicht beherrschen kannst.«
    »Du Miststück, wie kannst du so etwas sagen?«
    Das Wort durchschnitt wie ein Blitz den Nachthimmel. Jetzt ließ sich einfach alles sagen.
    »Wenn du so von mir denkst, dann laß mich in Ruhe. Verschwinde von hier, hörst du? Bitte, Edward, geh! Kapierst du nicht? Ich bin hergekommen, um allein zu sein.«
    Sie wußte, er hatte längst gemerkt, daß er mit diesem Wort zu weit gegangen war, aber es ließ sich nun mal nicht mehr zurücknehmen. Während sie ihm den Rücken zukehrte, war ihr bewußt, daß sie Theater spielte, daß sie sich auf eine Weise taktisch verhielt, wie sie es bei ihren temperamentvolleren Freundinnen immer gehaßt hatte. Allmählich war sie dieses Gespräch leid. Selbst falls es gut ausging, würde es nur noch mehr von diesen stummen Manövern nach sich ziehen. Manchmal, wenn sie unglücklich war, fragte sie sich, was sie am liebsten tun würde. Jetzt gerade wüßte sie darauf augenblicklich die Antwort. Sie sah sich am Bahnhof in Oxford am Gleis nach London stehen, neun Uhr früh, den Geigenkasten in der Hand, ein Bündel Notenblätter und einige angespitzte Bleistifte in der alten Segeltuchtasche über ihrer Schulter, unterwegs zur Probe mit dem Quartett, zu einem Treffen mit Schönem und Schwierigem, zu Problemen, die sich dadurch lösen ließen, daß Freunde zusammenarbeiteten. Hier dagegen, mit Edward, konnte sie sich keine Lösung vorstellen, falls sie ihm nicht ihre Idee erklärte, und im Moment fürchtete sie, daß ihr dafür der Mut fehlte. Wie unfrei sie doch war, wenn sie sich an diesen seltsamen Menschen aus einem Nest in den ChÜtern Hills band, der die Namen wilder Blumen und Gewächse und all der mittelalterlichen Könige und Päpste kannte. Und wie merkwürdig kam es ihr jetzt vor, daß sie diese Situation selbst gewählt hatte, diese Bindung freiwillig eingegangen war.
    Sie stand noch immer mit dem Rücken zu ihm, spürte aber, daß er näher gekommen war, und sie stellte ihn sich vor, wie seine Hände herabhingen, wie die Fäuste sich lautlos ballten und wieder lösten, während er die Möglichkeit erwog, sie an der Schulter zu berühren. Über die Fleet-Lagune drangen aus den tiefschwarzen Hügeln die zauberhaften Flötentöne eines einzelnen Vogels. Da es bereits so spät und die Melodie so hübsch war, nahm sie an, daß es eine Nachtigall sein mußte, aber gab es Nachtigallen am Meer? Sangen sie im Juli? Edward hätte das gewußt, aber ihr war nicht danach, ihn zu fragen.
    In sachlichem Ton sagte er: »Ich habe dich geliebt, aber du hast es mir so schwergemacht.«
    Sie schwiegen, während sie über die Konsequenzen der von ihm gewählten Zeitform nachdachten. Schließlich sagte
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