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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand
Autoren: Ian McEwan
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auf sich zukommen, seine Gestalt auf dem Kieselstreifen anfangs kaum mehr als ein indigofarbener Fleck in der Dämmerung, manchmal fast reglos, die Konturen flackernd, verschwimmend, dann plötzlich wieder näher, als wäre er wie eine Schachfigur einige Felder vorgerückt. Ein letzter Schimmer Tageslicht lag auf dem Ufer, und weit hinten im Osten schimmerten Lichtpunkte auf der Insel Portland, und eine tiefhängende Wolke spiegelte das stumpfe, gelbliche Glühen der Straßenlaternen einer fernen Stadt. Sie beobachtete ihn, wünschte sich, er liefe langsamer, denn ihr schlechtes Gewissen quälte sie, und sie sehnte sich verzweifelt nach mehr Zeit. Wie ihr Gespräch auch verlaufen würde, sie fürchtete sich davor. Soweit sie wußte, existierten keine Worte für das Geschehene, gab es keine gemeinsame Sprache, in der sich zwei vernünftige Erwachsene über einen derartigen Vorfall unterhalten konnten. Und sich darüber zu streiten überstieg erst recht jede Vorstellung. Es konnte keine Diskussion geben. Sie wollte an das Geschehene nicht mehr denken und hoffte, ihm gehe es genauso. Aber worüber sollten sie dann reden? Weshalb waren sie sonst hier draußen? Die Angelegenheit stand zwischen ihnen, unverrückbar wie eine Bodenerhebung, ein Berg, ein Vorgebirge. Unaussprechlich, unvermeidbar. Und sie schämte sich. Das Entsetzen über das eigene Verhalten klang in ihr nach, hallte ihr förmlich in den Ohren wider. Deshalb war sie so weit hinausgelaufen, mit ihren feinen Schuhen über groben Kies, um aus dem Zimmer zu flüchten, um all dem zu entkommen, was darin geschehen war, um vor sich selbst zu fliehen. Sie hatte sich unerhört benommen. Un-er-hört! Mehrere Male wiederholte sie in Gedanken dieses unzulängliche, letztlich beschönigende Wort - ihr Tennisspiel war unerhört, das Klavierspiel ihrer Schwester war unerhört. Florence wußte, daß sie ihr Verhaken damit eher vertuschte als beschrieb.
    Gleichzeitig war sie sich Edwards Blamage bewußt - als er sich mit verbissenem, bestürztem Blick über ihr aufbäumte und ein reptilienhaftes Zucken seine Wirbelsäule durchlief. Doch sie versuchte, nicht daran zu denken. Oder wagte sie sich einzugestehen, daß sie auch ein klein wenig erleichtert war, weil es nicht an ihr allein lag, weil mit ihm auch irgendwas nicht stimmte? Wie schrecklich, aber wie tröstlich auch, wenn er an einer Erbkrankheit litte, es in der Familie lag, jene Art Ge-brechen, über die man sich stets schamhaft ausschwieg, wie etwa Inkontinenz oder auch Krebs, ein Wort, das sie nicht einmal laut sagte, weil sie abergläubisch fürchtete, sie konnte sich den Mund infizieren - eine alberne Dummheit, zu der sie sich bestimmt nie bekennen würde. Falls ihre Vermutung stimmte, könnten sie sich gegenseitig bemitleiden, in Liebe verbunden durch ihre Leiden. Sie bedauerte ihn, aber ein bißchen fühlte sie sich auch betrogen. Wenn er an derartig ungewöhnlichen Beschwerden litt, warum hatte er ihr dann nichts davon ganz im Vertrauen erzählt? Aber sie wußte natürlich, warum er das nicht konnte. Sie hatte selbst ja auch nichts gesagt. Wie hätte er es anfangen, wie sein Gebrechen schildern sollen, mit welchen Worten? Es gab sie nicht. Diese Sprache mußte noch erfunden werden.
    Doch noch während sie ihren Gedanken nachhing, wußte sie genau, daß mit ihm alles in Ordnung war. Einfach alles. An ihr lag es, ihr allein. Sie lehnte sich gegen den großen umgestürzten Baum, der nach einem Sturm am Strand zurückgeblieben war, die Rinde von den Wellen abgeschält und das Holz glatt und hart vom Salzwasser. Sie schmiegte sich in eine Astgabel und spürte im Kreuz den letzten Rest Sonnenwärme des mächtigen Stamms. So mußte sich ein Kleinkind fühlen, geborgen in der Armbeuge der Mutter, nur konnte Florence nicht glauben, daß sie sich an Violet geschmiegt hatte, dünn und drahtig vor lauter Schreiben und Denken, wie deren Arme waren. Mit fünf Jahren hatte Florence eine Norlandnanny gehabt, mütterlich und ein bißchen pummelig, mit melodischem schottischem Akzent und roten rauhen Fingerknöcheln, doch nach einer Schandtat, über die nie mehr ein Wort verloren wurde, war sie verschwunden.
    Florence sah Edward über die Landzunge näher kommen und nahm an, daß er sie noch nicht entdeckt hatte. Sie könnte die steile Böschung hinuntergehen und am Ufer der Lagune entlang zurückgehen, aber obwohl sie Angst vor ihrem Mann hatte, fand sie es doch zu grausam, einfach vor ihm davonzulaufen. Einen Moment lang
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