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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand
Autoren: Ian McEwan
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zufrieden oder fand sich doch gelassen damit ab, daß heute nichts weiter passieren würde. Nachdem Florence die letzte Apfelsine geschält und sie beide sich die Frucht geteilt hatten, ruhten ihre klebrigen Finger in seiner
    Hand. In aller Unschuld freuten sich beide über die Überraschung, die Florence mit ihrem Besuch gelungen war; ihr Leben schien so unbeschwert und frei, und das ganze Wochenende lag vor ihnen.
    Die Erinnerung an diesen Spaziergang vom Krik-ketplatz nach Hause quälte Edward jetzt, ein Jahr später, in seiner Hochzeitsnacht, während er im Halbdunkel vom Bett aufstand. Hin und her gerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen klammerte er sich an seine schönsten und liebevollsten Erinnerungen an Florence, da er fürchtete, sonst zu resignieren, einfach aufzugeben. Eine bleierne Schwere erfaßte seine Beine, als er durch das Zimmer ging, um die Unterwäsche vom Boden aufzuheben. Er zog sie an, griff nach der Hose, die eine Zeitlang in seiner Hand baumelte, während er aus dem Fenster zu dem vom Wind zerzausten Geäst hinübersah, das jetzt bloß noch eine einheitliche, graugrüne Masse bildete. Hoch oben hing ein dunstverschleierter, fast lichtloser Halbmond. Das Geräusch der Wellen, die in regelmäßigen Abständen am Strand zerschellten, drang in seine Gedanken vor, als wäre es eben erst wieder angestellt worden, und Müdigkeit überkam ihn; auf die unbarmherzigen Gesetze und Abläufe der Natur, Mond, Ebbe und Flut, für die er sich sonst kaum interessierte, hatte sein persönliches Dilemma nicht die geringste Auswirkung. Diese offenkundige Tatsache fand er einfach zu brutal. Wie sollte er allein zurechtkommen, wenn ihm niemand half? Und wie sollte er zum Strand hinuntergehen, wo sie sich bestimmt aufhielt, wie ihr entgegentreten? Die Hose in der Hand kam ihm schwer und lächerlich vor, diese parallelen, an einem Ende verbundenen, der wechselnden Mode der letzten Jahrhunderte unterworfenen Tuchröhren. Ihm war, als kehrte er in die Welt von Sitte und Anstand zurück, sobald er sie überstreifte, zurück zu seinen Verpflichtungen und dem wahren Ausmaß seiner Schande. Und war er erst einmal angezogen, mußte er gehen und sie finden. Also zögerte er noch.
    Wie über so viele lebhafte Eindrücke legte sich über die Erinnerung an den Spaziergang nach Tur-ville Heath ein Halbschatten des Vergessens. Sie mußten seine Mutter allein angetroffen haben - sein Vater und die Mädchen waren wohl noch in der Schule. Ein fremdes Gesicht machte Marjorie May-hew gewöhnlich nervös, aber in seinem Gedächtnis fand er kein Bild mehr davon, wie er die beiden einander vorstellte oder wie Florence auf die vollgepfropften schmutzigen Zimmer reagierte, auf den Gestank vom Abfluß in der Küche, der im Sommer besonders schlimm war. Er besaß nur Schnapp-schüsse vom Nachmittag, einige Ansichten wie alte Postkarten. Ein Bild war durch das verschmierte, unterteilte Wohnzimmerfenster aufgenommen worden, Florence und seine Mutter auf der Bank am hinteren Gartenende, beide mit Schere und einer Ausgabe von Life in der Hand, wie sie schwatzten und die Seiten der Zeitschriften zerschnippelten. Als die Mädchen von der Schule kamen, mußten sie Florence zu den Nachbarn entführt haben, um ihr das Eseljunge zu zeigen, denn auf einem weiteren Schnappschuß kamen sie alle drei Arm in Arm über die Wiese zurück. Auf einem dritten Bild war Florence zu sehen, wie sie ein Teetablett zu seinem Vater in den Garten trug. Ach ja, er durfte nicht daran zweifeln, sie war ein guter Mensch, der beste; in jenem Sommer hatten sich alle Mayhews in Florence verliebt. Gemeinsam mit den Zwillingen waren sie nach Oxford gefahren und hatten einige Stunden mit Florence und ihrer Schwester am Fluß verbracht. Von diesem Tag an fragte Marjorie ständig nach Florence, obwohl sie sich nicht an ihren Namen erinnern konnte, und Lionel Mayhew, ganz Mann von Welt, riet seinem Sohn, »das Mädchen« zu heiraten, bevor es ihm jemand wegschnappte.
    Die Postkarten vom Elternhaus, der Spaziergang unter den Linden, der Sommer in Oxford, diese Erinnerungen an das letzte Jahr beschwor er nicht deshalb herauf, weil er den sentimentalen Wunsch hegte, sich in seinem Kummer zu verlieren, ihm nachzugeben, sondern um ihn zu vertreiben, um wieder verliebt zu sein und ein Gefühl nicht aufkommen zu lassen, das er sich nur ungern eingestand, den Beginn eines Stimmungsumschwungs, ein Verlangen nach Genugtuung, ein leises, sich langsam ausbreitendes Gift. Wut. Der
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