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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden
Autoren: authors_sort
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Leben erscheint mir wie eines dieser Riesenpuzzles, für die man ewig braucht, um dann, gerade wenn man zum Ende kommt, wenn man meint, endlich alles richtig zu haben, zu entdecken, daß alle Schlüsselteile fehlen.
    Mit dem Alter kommt die Weisheit; ich erinnere mich deutlich, das in meiner Jugend gehört zu haben. Ich glaube es aber nicht. Mit dem Alter kommen Falten, wollte man wohl sagen. Und Blasenprobleme und Arthritis und Hitzewellen und Gedächtnisschwund. Ich komme mit dem Alter nicht sehr gut zurecht, was mich überrascht, da ich immer überzeugt war, ich wäre eine der Frauen, die einmal mit Würde alt werden. Aber die Würde geht einem leicht verloren, wenn man alle zehn Minuten zur Toilette rennen muß und jedesmal, wenn man sich gerade fertig geschminkt hat, einen Schweißausbruch bekommt.
    Alle sind jünger als ich. Mein Zahnarzt, meine Ärztin, die Lehrer und Lehrerinnen meiner Töchter, meine Nachbarn, die Eltern der Freundinnen meiner Kinder, meine Klienten. Selbst die Polizeibeamten, die mich befragten, sind alle jünger als ich. Es ist
merkwürdig, weil ich immer das Gefühl habe, jünger zu sein als alle anderen, und dann stelle ich fest, daß ich nicht nur älter bin, sondern Jahre älter. Und ich bin die einzige, die das überrascht.
    Es passiert mir immer wieder. Ich mache mich zurecht, fühle mich glänzend, finde, ich sehe großartig aus, und dann sehe ich unerwartet mein Spiegelbild in einem Schaufenster und denke, wer ist denn das? Wer ist diese alte Schachtel? Das kann doch nicht ich sein. Ich habe doch nicht solche Säcke unter den Augen; das sind doch nicht meine Beine; das ist doch nicht mein Hintern. Es ist wirklich erschreckend, wenn das Selbstbild nicht mehr dem Bild entspricht, das man im Spiegel sieht. Und es ist noch erschreckender, wenn man merkt, daß andere Menschen einen kaum noch wahrnehmen, daß man unsichtbar geworden ist.
    Vielleicht erklärt das die Geschichte mit Robert.
    Wie sonst könnte ich sie erklären?
    Na bitte, jetzt ist es schon wieder soweit, ich schweife ab, komme vom Hundertsten ins Tausendste. Larry behauptet, das täte ich dauernd. Ich erkläre, daß ich mich langsam zum springenden Punkt vorarbeite; er behauptet, ich wolle ihn umgehen. Wahrscheinlich hat er recht. Zumindest in diesem Fall.
    Gleich wird mich wieder eine Hitzewelle packen. Ich weiß es, weil ich eben dieses gräßliche Beklemmungsgefühl hatte, das diesen Wallungen immer vorausgeht, so ähnlich, als hätte mir jemand ein Glas Eiswasser die Kehle hinuntergeschüttet. Es füllt meine ganze Brust und sammelt sich in einer kalten Lache um mein Herz. Eis, dem Feuer folgt. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.
    Anfangs glaubte ich, diese Beklemmungsgefühle hätten mit dem Chaos um mich herum zu tun. Ich gab meiner Mutter die Schuld, meiner Schwester, Robert, dem Prozeß. Allem und jedem. Aber allmählich wurde mir klar, daß dieser überfallartigen Angst jedesmal unverzüglich alles überschwemmende Hitzewellen folgten, die von meinem Bauch zu meinem Kopf hochschwappten und mich schwitzend und atemlos zurückließen, als wäre ich in Gefahr zu implodieren. Ich kann es kaum fassen, wie
stark diese Anfälle sind, wie ohnmächtig ich ihnen gegenüber bin, wie wenig ich mein eigenes Leben im Griff habe.
    Mein Körper hat mich verraten; er folgt einem eigenen geheimen Fahrplan. Ich trage jetzt eine Lesebrille; meine Haut verliert ihre Geschmeidigkeit und knittert wie billiger Stoff; um meinen Hals ziehen sich Ringe wie die Altersringe eines Baums. Unerwünschte Gewächse wuchern in mir.
    Kürzlich war ich zu einer Vorsorgeuntersuchung. Bei der Routineuntersuchung der Gebärmutter entdeckte Dr. Wong, die klein und zierlich ist und aussieht wie höchstens achtzehn, mehrere Polypen, die, wie sie sagte, entfernt werden müßten. »Wie sind die dahin gekommen?« fragte ich. Sie zuckte die Achseln. »So was passiert, wenn wir älter werden.« Sie ließ mir die Wahl: Ich könne einen Termin für eine Operation mit Narkose in einigen Wochen haben, oder sie könne die Wucherungen sofort herausschneiden, gleich hier, in ihrer Praxis, ohne Betäubung. »Wozu raten Sie mir?« fragte ich, von beiden Möglichkeiten wenig begeistert. »Wie hoch ist Ihre Schmerzschwelle?« entgegnete sie.
    Ich entschied mich dafür, die Polypen gleich entfernen zu lassen. Ein paar Minuten starker Krämpfe, fand ich, wären einer Narkose, einem Eingriff, gegen den ich immer schon eine Abneigung hatte, vorzuziehen. Die ganze Sache war,
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