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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden
Autoren: authors_sort
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geleiten wie eine Fremdenführerin und mit gedämpfter Stimme auf jenes Stück Boden im Wohnzimmer hinzuweisen, das einst mit Blut bedeckt war und selbst jetzt noch, nach mehreren professionellen Reinigungen, einen Hauch feiner Röte zeigt. Wahrscheinlich werde ich diese Fliesen austauschen lassen müssen. Einfach wird es nicht werden. Die Herstellerfirma hat vor mehreren Jahren Pleite gemacht.

    Also, wie ist das alles gekommen? Wann begann mein einst stabiles und gesetztes Leben außer Kontrolle zu geraten wie ein Auto ohne Bremsen, das auf einer abschüssigen Bergstraße immer schneller wird und schließlich in den Abgrund stürzt und in Flammen aufgeht? Wann genau war der Moment, als Humpty Dumpty von der Wand gefallen und in tausend kleine Stücke zersprungen ist, die keiner mehr zusammenfügen oder ersetzen kann?
    Es gibt natürlich keinen solchen Moment. Wenn ein Teil deines Lebens in Stücke geht, sitzt der Rest deines Lebens nicht einfach däumchendrehend da und wartet geduldig ab, bis es weitergeht. Das Leben läßt dir nicht die Zeit, dich erst einmal zu fassen, nicht den Raum, dich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. Es fährt einfach fort, ein verwirrendes Ereignis auf das andere zu häufen, wie ein Verkehrspolizist, der durch die Gegend rast, um sein Kontingent an Strafzetteln zu verteilen.
    Bin ich theatralisch? Vielleicht. Aber ich finde, ich habe ein Recht darauf. Ich, die immer die Zuverlässige war, die Praktische, die, die mehr Vernunft als Phantasie besitzt, wie Jo Lynn einmal behauptete, ich habe ein Recht auf meine melodramatischen Momente, finde ich.
    Soll ich ganz am Anfang beginnen, mich in aller Form bekanntmachen – Guten Tag, mein Name ist Kate Sinclair? Soll ich berichten, daß ich vor siebenundvierzig Jahren an einem ungewöhnlich warmen Apriltag in Pittsburgh geboren wurde, daß ich einen Meter siebenundsechzig groß bin und sechsundfünfzig Kilo wiege, daß ich hellbraunes Haar habe und Augen, die eine Nuance dunkler sind, einen kleinen Busen und schöne Beine und ein etwas schiefes Lächeln? Daß Larry mich liebevoll Funny Face nennt, daß Robert sagte, ich sei schön?
    Es wäre viel einfacher, am Ende zu beginnen, Fakten aufzuzählen, die bereits bekannt sind, die Toten zu nennen, das Blut ein für allemal wegzuwischen, anstatt den Versuch zu unternehmen, nach Motiven, Erklärungen, Antworten zu suchen, die vielleicht niemals gefunden werden.

    Aber das will die Polizei nicht. Sie kennen die grundlegenden Fakten bereits. Sie haben das Resultat gesehen. Sie wollen Einzelheiten, und ich habe mich bereit erklärt, sie nach bestem Wissen zu liefern. Ich könnte mit Amy Lokashs Verschwinden beginnen, oder mit dem ersten Besuch ihrer Mutter in meiner Praxis. Ich könnte mit den Ängsten meiner Mutter beginnen, sie werde verfolgt, oder mit dem Tag, an dem Saras Lehrerin mich anrief, um mir ihr wachsendes Unbehagen über das Verhalten meiner Tochter mitzuteilen. Ich könnte von Roberts erstem Anruf erzählen oder von Larrys plötzlicher Reise nach South Carolina. Aber ich denke, wenn ich einen Moment vor allen anderen wählen müßte, dann wäre es der an jenem Samstagmorgen im vergangenen Oktober, als Jo Lynn und ich friedlich am Küchentisch saßen und unsere dritte Tasse Kaffee tranken, als meine Schwester die Morgenzeitung aus der Hand legte und seelenruhig verkündete, daß sie beabsichtige, einen Mann zu heiraten, dem gerade wegen Mordes an dreizehn Frauen der Prozeß gemacht wurde.
    Ja, ich denke, damit werde ich anfangen.

2
    Ich erinnere mich, daß es ein sonniger Tag war, einer jener prachtvollen Tage, an denen der Himmel so blau ist, daß er fast künstlich erscheint, die Luft angenehm warm, der Wind nur ein flüsternder Hauch. Ich trank den Rest Kaffee, der noch in meiner Tasse war, mit dem gleichen Genuß wie eine Kettenraucherin den Rauch ihrer letzten Zigarette einzieht, und blickte durch das hintere Fenster zu der hohen Kokospalme hinaus, die sich über das Schwimmbecken hinweg zum Terrakottadach des Hauses neigte. Es war ein Bild wie auf einer Ansichtskarte. Der Himmel, der Rasen, selbst die Baumrinden leuchteten in so kräftigen Farben, daß sie zu pulsieren schienen. »Was für ein herrlicher Tag«, sagte ich.
    »Hm«, brummte Jo Lynn hinter der Morgenzeitung versteckt.
    »Schau doch mal raus«, drängte ich, obwohl ich wirklich nicht wußte, wozu ich mir die Mühe machte. Suchte ich Bestätigung oder Gespräch? Hatte ich das nötig? »Sieh doch nur, wie blau der
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