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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden
Autoren: authors_sort
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wieder schreien. Ich fühle mich ohnmächtig. Ich bin zornig. Ich bin frustriert. Und ich bin traurig. So traurig. Die Traurigkeit füllt meine Lunge wie Wasser. Ich habe das Gefühl zu ertrinken. Ich habe Angst. Jo Lynn hat mich im Stich gelassen. Sie war unbesonnen und widerspenstig und ein klein wenig verrückt. So lange sie das alles war, brauchte ich es nicht zu sein. Ich konnte auf Nummer sicher gehen, das brave Mädchen sein; meine Vernunft stand im Gegensatz zu ihrer Phantasie. Und jetzt ist sie tot, und ich fühle mich, als hätte ein wildes Tier einen riesigen Fetzen Fleisch aus meinem Körper gerissen. Ein Teil von mir fehlt.
    Ich habe meiner Schwester nie gesagt, daß ich sie liebe. Und sie hat mir nie gesagt, daß sie mich liebt.
    Wie konnten zwei Schwestern so viel voneinander wissen und so wenig von sich selbst?
    Ich weiß die Antwort nicht. Die Frau, die immer auf alles eine Antwort weiß, ist ratlos. Was werden meine Klienten denken?
    Aber im Moment habe ich sowieso keine Klienten. Ich habe beschlossen, eine Pause zu machen, vielleicht ein Jahr, vielleicht auch länger. Eine Denkpause, so nennt man das, glaube ich. Ich habe seit meinem Studienabschluß immer gearbeitet, und ich habe eine Pause dringend nötig; allerdings ist dieses Freisemester,
wenn ich ganz ehrlich sein soll, mehr das Resultat äußerer Umstände als innerer Überzeugung. Innerhalb weniger Tage nach Bekanntwerden der ganzen Geschichte sagten die meisten meiner Klienten ihre Termine ab. Ich nehme es ihnen nicht übel. Wie kann man sein Leben einer Therapeutin anvertrauen, die ihr eigenes nicht im Griff hat?
    Aus meiner großen Radiosendung ist natürlich nichts geworden. Robert rief an, um mir mitzuteilen, daß die maßgeblichen Leute des Senders sich dagegen entschieden hätten. Angesichts all der Publicity sei dies wahrscheinlich nicht der günstigste Zeitpunkt für mich, mit einer derart exponierten Arbeit zu beginnen. Er sprach davon, daß Glaubwürdigkeit in diesem Geschäft oberstes Gebot sei, ohne direkt zu sagen, daß die meine ernsthaft erschüttert sei. Über das, was im Breakers geschehen – oder, besser gesagt, nicht geschehen – war, verlor er kein Wort. Er wünschte mir alles Gute, ich ihm auch.
    Gestern orgelte ich die Sender an meinem Autoradio durch und erwischte die letzten Takte von Faith Hills fader Wiedergabe von Take Another Little Piece of My Heart, gefolgt von einer hypnotischen, merkwürdig bekannt klingenden Stimme: »Unser Thema heute, hier bei WKEY’s ›Rat und Hilfe‹, ist ›Herzenskummer‹. Die Telefonleitungen sind jetzt geschaltet. Wenn Sie mir etwas darüber erzählen möchten, wie Sie das letztemal Ihr Herz verloren haben, oder wenn Sie einen Rat brauchen, um es wiederzufinden, oder wenn Sie nur einen Schlager zum Thema hören möchten, dann rufen Sie jetzt an. Ich bin Melanie Rogers, und ich bin hier, um Ihnen zu helfen.«
    Ich erinnerte mich der Rothaarigen mit der Honigstimme und den smaragdgrünen Augen, die mir in Roberts Büro begegnet war. »Darf ich dich mit einer alten Freundin bekannt machen?« hatte Robert gesagt. »Melanie Rogers – das ist Kate Sinclair. Wir kennen uns schon sehr lange.« Seit der High-School und Sandra Lyons, dachte ich und begriff, daß manche Dinge sich niemals ändern.
    Es erscheint mir heute beinahe undenkbar, daß ich jemals
ernsthaft daran gedacht habe, meine Ehe mit Larry wegen eines Mannes wie Robert aufs Spiel zu setzen. Ich liebe meinen Mann, und ich habe ihn immer geliebt. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. In letzter Zeit haben Larry und ich verschiedentlich davon gesprochen, aus Florida wegzugehen und nach Pittsburgh zurückzukehren. Wir haben hier nie richtige Freunde gefunden, und Larry sagt, ihm fehle der Wechsel der Jahreszeiten. Sein Golfspiel sei unter aller Kanone, behauptet er, außerdem kann er keinen Golfschläger mehr sehen, ohne an meine Mutter und Colin Friendly zu denken.
    Ich kann es immer noch nicht fassen, daß Colin Friendly die Attacke überlebt hat, obwohl es mich eigentlich nicht wundern sollte. Leute wie Colin Friendly überleben immer. Es sind die Unschuldigen, die untergehen. Ich habe neulich in der Zeitung gelesen, daß das Oberste Gericht von Florida sein letztes Gesuch um Hinrichtungsaufschub abgelehnt hat. Wenn ich das, was Jo Lynn mir erklärt hat, noch richtig im Kopf habe, bleiben ihm jetzt noch das Berufungsgericht, die nächste Instanz in Atlanta und der Oberste Gerichtshof. Es ist ein langer Prozeß.
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