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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden
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beiden Personen nähern.«
    »Wie konnte sie das nur tun?« murmelte ich, ins Sofa zurücksinkend.
    »Glaubst du, daß sie entkommen?«
    »Nein.«
    »Was passiert dann mit ihr?« fragte Sara.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Soeben wird gemeldet«, fuhr der Sprecher fort, unfähig, seine
Erregung zu verbergen. Wahrscheinlich, dachte ich, hat er sein ganzes Leben darauf gewartet, nur einmal »soeben wird gemeldet« sagen zu dürfen. »Soeben wird gemeldet, daß die Polizei in dem Waldstück hinter dem Wayfarer’s Motel in Jacksonville eine männliche Leiche gefunden hat. Es wird angenommen, daß es sich um Colin Friendly handelt.«
    »Mein Gott.«
    »Was ist mit Jo Lynn?« fragte Sara.
    »Ich wiederhole: Die Polizei meldet, daß sie in einem Waldstück hinter dem Wayfarer’s Motel am Stadtrand von Jacksonville eine männliche Leiche gefunden hat, bei der es sich wahrscheinlich um Colin Friendly handelt. Der Fundort befindet sich in der Nähe des Ortes, an dem heute morgen der rote Toyota entdeckt wurde, der der Ehefrau Colin Friendlys, vormals Jo Lynn Baker, gehört. Im Augenblick ist die Polizei nicht bereit, weitere Kommentare abzugeben, hat jedoch zu einem späteren Zeitpunkt eine Erklärung angekündigt. Wir werden weiter berichten. Nun zu den …«
    »Er ist tot?« fragte Sara. »Colin Friendly ist tot?«
    »Ich kann es nicht glauben.«
    »Glaubst du, Jo Lynn hat ihn getötet?«
    »Jo Lynn könnte keiner Fliege was zuleide tun.«
    »Wo ist sie dann? Was ist mit ihr?«
    »Ich weiß es nicht.« Ich stand auf und setzte mich gleich wieder. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    »Wieso?« rief Michelle, die sauber gekleidet in Shorts und T-Shirt ins Zimmer kam. »Was ist denn passiert?«
    »Colin Friendly ist tot, und niemand weiß, was mit Jo Lynn ist«, berichtete ihr Sara.
    »Was?«
    »Vielleicht steht was in der Morgenzeitung«, meinte Sara. »Wo ist sie?«
    »Sie ist noch draußen.«
    »Ich hole sie.« Sara lief schon zur Haustür.
    Das Telefon läutete. Michelle rannte in die Küche, um abzunehmen. Es war Larry.

    »Du hast es gehört?« fragte er, nachdem Michelle mir den Hörer gereicht hatte.
    »Eben, ja – in den Nachrichten.«
    »Weiß man etwas über Jo Lynn?«
    »Nichts.«
    »Okay, hör zu, ich flieg jetzt sofort zurück. Ich bin auf dem Weg zum Flughafen. Ich komme, sobald ich kann. Versuch nicht, es mir auszureden.«
    »Beeil dich«, sagte ich nur.
    »Colin Friendly ist tot?« wiederholte Michelle.
    »Anscheinend.«
    »Gut.« Die Haustür wurde geöffnet und geschlossen. »Was steht in der Zeitung?« rief Michelle.
    Sara antwortete nicht.
    »Ist die Zeitung nicht gekommen?« fragte ich und bog um die Ecke zur Frühstücksnische.
    Was ich dann sah, werde ich mein Leben lang nicht vergessen: Meine große Tochter, in weißem T-Shirt und schmuddeligen Shorts, die Zeitung in der schlaff herabhängenden Hand, die vom Weinen verquollenen Augen unter dem mehrfarbigen Haar weit aufgerissen und tränennaß, der Mund geöffnet, der Kopf weit zurückgebogen, an ihrem Hals ein langes Messer mit gezackter Klinge.
    »Oh, die Zeitung ist schon gekommen«, sagte Colin Friendly. Sein lachendes Gesicht war an Saras tränenfeuchte Wange gedrückt. Einen Arm hatte er um ihre Taille gelegt, den anderen um ihren Hals geschlungen. Das Messer in seiner Hand lag genau an ihrer Halsschlagader. »Aber Sie wissen ja, wie das mit der Presse ist. Man kann sich wirklich nicht auf das verlassen, was sie melden.«
    Einen Moment lang kam alles zum Stillstand – das Brummen des Kühlschranks, das Zwitschern der Vögel im Garten, das Blut, das durch meine Adern rann, sogar mein Atem. In der künstlichen Stille nahm ich Colin Friendlys auffallend blaue Augen wahr, sein welliges Haar und das höhnische Lächeln, das merkwürdig
konservative blaue Hemd und die schwarze Leinenhose, die lose um seinen drahtigen Körper hing, die kräftigen Hände, die langen, schlanken Finger, die den schwarzen Griff des langen Messers hielten, dessen gezähnte Klinge an den zarten Hals meiner Tochter gedrückt war.
    »Wer ist da?« fragte Michelle aus der Küche und kam in die Frühstücksnische. Beim Anblick des alptraumhaften Bildes erstarrte sie, aber nur einen Moment, dann stürzte sie zur Schiebetür, die vom Wohnzimmer in den Garten führte.
    »Hier geblieben!« rief Colin Friendly. »Sonst schneid ich ihr jetzt gleich die Kehle durch.«
    Michelle blieb abrupt stehen.
    »Braves Mädchen«, sagte Friendly. »So, jetzt komm schön hierher. Geh zu deiner
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