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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden
Autoren: authors_sort
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Tochter ein Messer an die Kehle hielt, so waren wir doch nur Schritte von der Küche
entfernt, in der es Messer auch für uns gab. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, ihn abzulenken, ihn zu überwältigen, zu überraschen, ehe er reagieren und Sara das Messer in den Hals stoßen konnte.
    In diesem Moment sah ich sie. Zuerst erschien sie in meinem Augenwinkel, wie ein Staubkörnchen, wurde größer, wie ein Schatten, nahm Form und Gestalt an. Die grauen Locken lagen unfrisiert und vom Schlaf plattgedrückt an ihrem Kopf, das Nachthemd fiel lose von ihren Schultern, ihre Füße in den Hausschuhen bewegten sich lautlos über die Fliesen hinter Colin Friendly, ihre braunen Augen waren klar und zielgerichtet.
    »Großmama!« schrie Michelle unwillkürlich.
    »Was?« Colin Friendly wirbelte herum.
    Und dann explodierte alles.
    Ich sah den Golfschläger in den Händen meiner Mutter erst, als er durch die Luft auf Colin Friendlys Kopf hinuntersauste. Er traf den Mann mit knochensplitternder Wucht, schob einen Wangenknochen in den anderen, rasierte ihm fast das Haar von der Kopfhaut. Ein Blutstrom ergoß sich aus Friendlys rechtem Ohr. Ich stürzte mich auf Sara und riß sie schreiend aus der Umklammerung des taumelnden Wahnsinnigen. Das Messer fiel ihm aus der Hand, als der Golfschläger ihn ein zweitesmal traf, an sein Kinn prallte und ihm den Kiefer zertrümmerte, so daß seine Zähne wie Maiskörner aus seinem Mund flogen und das Blut wie aus einem Springbrunnen über sein Kinn spritzte. Und schon traf ein dritter Schlag ihn, landete mit der Präzision eines Hammers mitten in seinem Gesicht und riß ihn zu Boden, wo er mit zerschmetterter Nase in einer Pfütze seines eigenen Bluts auf die Knie fiel. Er sah uns an, meine Töchter und mich, wie wir dicht aneinandergedrängt dastanden, und wollte lachen. Aber es kam kein Laut aus seinem Mund, nur Blut. Dann fiel er vornüber.
    Ich rannte zu meiner Mutter, die den Golfschläger fallen ließ, und küßte sie, drückte sie fest an meine Brust. »Ich beschütze euch«, flüsterte sie, als Sara und Michelle zu uns eilten und uns umfingen. »Ich beschütze euch.«

    Als endlich die Polizei eintraf, hatten ihre Augen sich verschleiert. Sie begrüßte die Beamten mit einem höflichen Lächeln und nickte an meiner Schulter ein, als ich mich bemühte, ihnen zu berichten, was geschehen war.

32
    Die Medien ließen sich diesen Knüller nicht entgehen. In den folgenden Wochen wurden wir von Horden von Reportern aus aller Welt belagert. In unserem Vorgarten schlugen Fernsehkameras Wurzeln, verbreiteten sich wie Wildwuchs um das ganze Haus, eroberten jeden Winkel und jede Nische, spähten durch jedes Fenster. Überall verfolgte man uns mit Mikrofonen, Blitzlichter blendeten uns, Menschen tuschelten hinter unserem Rücken. Auf die zahllosen Fragen, die man uns stellte, gaben wir immer nur eine Antwort: Kein Kommentar. Das war einfacher, als erklären zu wollen, daß wir keine Antworten wußten.
    Selbst heute, vier Monate später, fehlen mir die Antworten. Immer noch habe ich größte Mühe zu begreifen.
    Das einzige, was ich mit Gewißheit weiß, ist, daß meine Schwester tot ist.
    Anfangs versuchte ich es zu leugnen. Ich redete mir ein, Colin Friendly hätte gelogen, hätte mich wieder einmal zum Narren gehalten und sich an meiner Qual geweidet. In Wirklichkeit, sagte ich mir, sei Jo Lynn am Leben, es sei ihr nichts geschehen, sie sei mitten in der Nacht heimlich geflohen und halte sich in dem Waldstück hinter dem Wayfarer’s Motel am Stadtrand von Jacksonville versteckt. Und selbst wenn Colin Friendly die Wahrheit gesagt haben sollte, rationalisierte ich weiter, so war Jo Lynn doch eine gesunde und kräftige Frau und hatte es irgendwie geschafft, seinen brutalen Angriff zu überstehen. Sie würde vielleicht ein paar Wochen im Krankenhaus bleiben müssen, um ihre Verletzungen auszuheilen, aber sie würde wieder gesund werden.
Selbst als die Polizei mitgeteilt hatte, daß man im Zimmer 16 des nunmehr berüchtigten Motels eine weibliche Leiche gefunden hatte, versuchte ich mir einzureden, es könne sich unmöglich um Jo Lynn handeln. Die Polizei hatte sich doch auch geirrt, als sie den Toten im Wald für Colin Friendly gehalten hatte. Und jetzt irrte sie sich eben wieder, das jedenfalls wollte ich glauben. Bis alle Selbsttäuschungen schließlich unmöglich wurden.
    Ich fuhr ins gerichtsmedizinische Institut, aber man erlaubte mir nicht, die Leiche anzusehen; nicht einmal eine Fotografie
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