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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden
Autoren: authors_sort
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auf der äußersten Kante der grau-weißen Polstersessel nieder, die Lippen erwartungsvoll geöffnet, die Zunge schon gespitzt, um ihrer Wut, ihren Ängsten, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben, und das erste, was ihnen über die Lippen kommt, ist stets die gleiche Frage: Wo soll ich anfangen?
    Im allgemeinen fordere ich sie auf, mir das Ereignis zu schildern, das sie bewogen hat, mich aufzusuchen, den sprichwörtlichen Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Sie überlegen ein paar Sekunden, dann beginnen sie langsam, bauen ihre Beweisführung auf wie ein neues Haus, schichten wie Bausteine Detail auf Detail, immer eines auf das andere, eine Demütigung neben die andere, empfundene Kränkung über unterschwellige Drohung, und schließlich sprudeln die Worte nur so hervor, daß ihnen kaum Zeit bleibt, sie alle im begrenzten Raum einer Stunde unterzubringen.
    Ich habe eine Baumetapher gewählt – das würde Larry amüsieren. Larry ist der Mann, mit dem ich seit vierundzwanzig Jahren verheiratet bin, er ist Bauunternehmer. Einen guten Teil der spektakulären neuen Häuser, die überall in Palm Beach County an den Golfplätzen aus dem Boden schießen, hat er gebaut. Die beruflichen Möglichkeiten waren der angebliche Grund, daß wir vor sieben Jahren von Pittsburgh hierher, nach Florida, gezogen sind, aber ich habe immer den Verdacht gehabt, daß hinter Larrys Drängen, hierherzuziehen, zumindest teilweise der Wunsch stand, meiner Mutter und meiner Schwester zu entkommen. Er
bestreitet das, aber da es für mich der Hauptgrund war, dem Umzug zuzustimmen, habe ich seinem Leugnen niemals recht geglaubt. Doch es erübrigt sich, darüber zu streiten, da meine Mutter uns kaum ein Jahr später folgte, und wenige Monate danach auch meine Schwester.
    Meine Schwester heißt Jo Lynn. So wird sie jedenfalls genannt. Getauft wurde sie auf den Namen Joanne Linda. Aber unser Vater rief sie Jo Lynn, als sie noch ein Kind war, und der Name ist ihr geblieben. Er paßt zu ihr. Sie sieht aus wie eine Jo Lynn, groß und blond und vollbusig, mit einem ansteckenden Lachen, das irgendwo tief in ihrer Kehle beginnt und schließlich wie goldflirrender Blütenstaub ihren Kopf umschwebt. Selbst die honigsüße schleppende Sprechweise, die sie sich angewöhnt hat, seit sie in Florida lebt, wirkt bei ihr passender, echter irgendwie, als die platten kühlen Töne des Nordens, in denen sie sich den größten Teil ihrer siebenunddreißig Jahre ausgedrückt hat.
    Ich sagte vorhin, unser Vater. Tatsächlich war er nur Jo Lynns Vater, nicht meiner. Mein Vater starb, als ich acht Jahre alt war. So wie meine Mutter es mir erzählte, stand er eines Tages vom Eßtisch auf, um sich ein Glas Milch zu holen, bemerkte beiläufig, er habe plötzlich höllische Kopfschmerzen, und lag im nächsten Moment tot auf dem Boden. Ein Aneurysma, stellte der Arzt später fest. Meine Mutter verheiratete sich im folgenden Jahr wieder, und Jo Lynn wurde im Jahr darauf geboren, wenige Wochen nach meinem zehnten Geburtstag.
    Mein Stiefvater war ein gewalttätiger und manipulativer Mensch, der sich mehr auf seine Fäuste als auf seinen Verstand verließ, sofern man annehmen will, daß er überhaupt Verstand besaß. Ich bin überzeugt, es ist ihm zu danken, daß Jo Lynn sich ihr Leben lang gewalttätige Männer suchte, auch wenn er zu ihr, die ganz klar sein Liebling war, immer sehr zärtlich war. Seine Wut ließ er an meiner Mutter aus. Mich bedachte er hin und wieder mit ein paar gutplacierten Kopfnüssen, sonst ignorierte er mich meistens. Wie dem auch sei, meine Mutter verließ ihn, als Jo Lynn dreizehn war. Ich war damals schon aus dem Haus und mit
Larry verheiratet. Mein Stiefvater starb im folgenden Jahr an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Jo Lynn war die einzige von uns, die um ihn trauerte.
    Und heute weine ich um meine Schwester, wie ich das im Lauf der Jahre so oft getan habe. Strenggenommen ist sie natürlich nur meine Halbschwester, und die zehn Jahre Altersunterschied in Verbindung mit ihrem sprunghaften Verhalten haben es uns schwergemacht, einander nahezukommen. Aber niemals werde ich den Morgen vergessen, an dem meine Mutter mit ihr aus dem Krankenhaus kam. Mit dem kleinen goldenen Bündel im Arm trat sie zu mir und legte es mir behutsam in die Arme. Jetzt, sagte sie, hätte ich ein richtiges Baby, das ich mit ihr zusammen versorgen könne. Ich erinnere mich, daß ich oft stundenlang an Jo Lynns Kinderbett stand, wenn sie schlief, und aufmerksam nach
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