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Am Samstag aß der Rabbi nichts

Am Samstag aß der Rabbi nichts

Titel: Am Samstag aß der Rabbi nichts
Autoren: Harry Kemelman
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ganze
Struktur, der ganze Grundriss des Verbrechens war in unserem Jom-Kippur- Gottesdienst
enthalten.»
    «Wie meinen Sie das?»
    «Nun, wir lesen an diesem Tag von der Opferung des
Sündenbocks durch den Hohepriester im alten Israel. Und in meiner Predigt
sprach ich von Abrahams Opfer. Dieser Thoraabschnitt wird am jüdischen
Neujahrstag gelesen – zu Beginn der zehn Bußtage, die mit dem Versöhnungstag
ihren Höhepunkt erreichen … Nun, und die Situation bei Goddard hatte etwas
damit gemeinsam. Obwohl sich Hirsh von der jüdischen Gemeinschaft abgewandt
hatte, spielte er dennoch die Rolle, in die Juden so oft hineingedrängt worden
sind.»
    «Welche Rolle?»
    «Er war der Sündenbock.» Der Rabbi lächelte. «Sein Name sagt
es ja schon.»
    «Wieso – Hirsh?»
    «Nein: Isaac.»
     

39
     
    Rabbi Small schritt im Wohnzimmer auf und ab. Er feilte an seiner
Predigt für Chanukka, das Fest der Lichter. Von Zeit zu Zeit warf er
einen Blick auf sein Publikum – seinen Sohn, der in eine Couchecke gebettet
lag.
    «… wir dürfen daher das Lichterwunder nicht nur als ein Beispiel
für das Eingreifen einer höheren Macht auffassen, sondern …»
    Der Säugling begann zu wimmern.
    «Gefällt’s dir nicht? Du hast Recht, ich finde es auch
nicht besonders gut … Wie wär’s mit dem: ‹Das wahre Chanukka- Wunder ist
nicht so sehr die Öllampe, die acht Tage lang brannte statt nur einen, sondern
die Tatsache, dass ein kleines Volk dem mächtigen Griechenland trotzen konnte
…›»
    Der Kleine holte Luft, verzog das Gesicht und fing an zu brüllen.
    «Schlecht, was? Ja, dann …»
    Miriam erschien in der Tür. «Er ist hungrig. Ich werd ihn gleich
füttern.»
    «Ist recht. Bring ihn nachher wieder rein; vielleicht ist
er mit vollem Magen weniger kritisch.»
    «Kommt nicht infrage! Dann muss er doch schlafen … Nicht
wahr, Jonathan?» Sie tätschelte ihn, bis das Schreien zum leisen Wimmern wurde
und schließlich verstummte. «Außerdem …» Sie trat ans Fenster und schaute
hinaus: «Du bekommst Besuch, David.»
    Draußen half der Chauffeur dem alten Moses Goralsky aus dem
Wagen. Der Rabbi lief an die Haustür, um den Gast zu empfangen.
    «Treten Sie ein, Mr. Goralsky … Schön, dass Sie uns mal besuchen.»
    «Ich hab eine Frage», begann Goralsky, als sie im Zimmer saßen.
«Zu wem soll ich damit schon kommen, wenn nicht zum Rabbi?»
    «Hoffentlich kann ich Ihnen helfen, Mr. Goralsky.»
    «Wissen Sie noch, wie mein Ben damals in der Klemme gesessen
hat und ich in die Synagoge kam, um zu beten?»
    «Ich erinnere mich.»
    «Ich sag die Gebete auf Hebräisch; ich kann sie auswendig. Aber
ich weiß nicht, was sie bedeuten … Wann hätt ich’s lernen sollen, Rabbi? Wir
waren arme Leute. Mein Vater hat schwer gearbeitet, um uns durchzubringen, und
ich hab ihm früh helfen müssen – das war damals bei den meisten von unseren
Leuten so, drüben in Europa.»
    «Ich weiß.»
    «Heißt das nun, dass ich nicht bete, weil ich die Wörter nicht
verstehe? Ich mach mir wohl meine Gedanken, während ich sie sag, und für mich
ist das Beten … Ist das richtig oder falsch, Rabbi?»
    «Es hängt davon ab, was Ihre Gedanken sind.»
    «Woran konnte ich schon denken an dem Samstag damals? An
meinen Ben. An nichts anderes. Ich hab Gott gebeten, er soll ihm helfen, er
soll machen, dass die Polizei den Schuldigen findet. Dass sie meinen Ben
heimlassen.»
    «Ich denke, das heißt Beten, Mr. Goralsky.»
    «Jaaa … Und beim Beten hab ich was versprochen. Dass ich
was tu, wenn sie ihn freilassen. Eine Spende.»
    «Gott braucht man nicht zu bestechen. Mit ihm brauchen Sie
auch nicht zu handeln.»
    «Es war kein Handel. Ich hab’s mir einfach vorgenommen. Es
war ein … So wie ein Gelübde war das.»
    «Gut.»
    «Und das ist die Frage: Muss ich es halten, Rabbi?»
    Der Rabbi lächelte nicht. Die Hände tief in den Taschen, durchmaß
er mit nachdenklich gerunzelter Stirn das Zimmer. Schließlich blieb er stehen
und sah dem Greis ins Gesicht.
    «Es hängt davon ab, was Sie versprochen haben. Wenn es etwas
Unmögliches oder Ungesetzliches war, sind Sie natürlich nicht gebunden. Nachdem
Sie das Versprechen sich selbst auferlegt haben, können nur Sie allein
entscheiden, ob Sie sich verpflichtet fühlen.»
    «Ich erzähl Ihnen, wie’s war, Rabbi: Vor ein paar Monaten sprach
ich mit Mortimer Schwarz, dem Gemeindevorsteher. Ich sag, ich will was stiften
zum Andenken an meine Hannah – sie war kurz davor gestorben … schließlich, wir
sind
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