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MAGICA MATHEMATICA

MAGICA MATHEMATICA

Titel: MAGICA MATHEMATICA
Autoren: Franziska Wolf
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Pedros Schicksal
    Er sieht den nasskalten Februartag wie ein
Film vor sich: In der Wohnung war es tagsüber fast genauso kalt wie draußen,
weil Mutter mit dem Holz sparte und erst nach Einbruch der Dunkelheit den Ofen
anfeuerte. Nur in der Küche, wo der Herd war, war auch ein warmer Platz für die
fünf Kinder. Der zehnjährige Paolo verzweifelte an seinem Aufsatz, der
achtjährige Silvano rechnete Malaufgaben, die fünfjährige Maria malte mit
Bleistiftstummeln und die zweijährige Francesca kuschelte mit ihrem zerfetzten
Stoffhasen, der zuvor schon allen anderen Geschwistern gehörte, auf dem
Kanapee. Das Kanapee war eine einfache Liege mit erhöhtem Kopfteil. Pedro
selbst erst zwölf Jahre alt knetete der Mutter den Hefeteig für das Abendbrot.
Gegen Ende des Winters waren die Vorräte an Kartoffeln und getrocknetem Gemüse
fast aufgebraucht. Mutter zerbrach sich täglich den Kopf, wie sie die Familie
satt kriegt. Alle schreckten auf: Wieder der schwere Husten des Vaters, so wie
er heute Morgen das Haus zur Arbeit verlassen hatte, kehrt er jetzt wieder
heim. Draußen war es dämmrig und es war ungewöhnlich, dass Vater um diese Zeit
schon zurückkehrt. Die Eingangstür fiel ins Schloss und er schleppte sich, die
Seele aus dem Leib hustend, in die Küche. Mutter sagte besorgt: „Giuseppe, ich
glaube, es ist schlimmer geworden, wir müssen den Doktor holen!“ - „Nein! Ich
lege mich hin. Es ist eine harmlose Grippe“, krächzte der Vater schwach, zog
die Schuhe aus und legte sich auf das Kanapee zu Francesca. Neue Hustenanfälle.
Im Liegen wurde der Husten noch unerträglicher. Er setzte sich auf, um nicht zu
ersticken. Mutter legte ihre Hand auf seine Stirn. „Giuseppe, du glühst. Das
Fieber ist hoch.“ – „Ich glühe nicht. Ich friere“, antwortete er. Die  Mutter
brachte ihm zwei Decken und umwickelte gleichzeitig seine Waden mit in Wasser
getränkten Geschirrtüchern, um das Fieber zu senken. Der Husten wurde von
Stunde zu Stunde unerbittlicher. In der Nacht hustete er eitrigen, gelblichen
und grünen Schleim aus. Am nächsten Tag erschrak Pedro an seinem blassen
Gesicht. Er ließ den Kopf hängen und war nicht imstande das Kanapee zu
verlassen. In der zweiten Nacht änderte sich die Farbe des Auswurfes auf
rötlichbraun und wurde blutig.
    Am Tag darauf rang er nach Luft. Er roch
süßlich aus dem Mund und atmete schnell und flach. Mutter schickte jetzt
verzweifelt Pedro in die Via Stalloreggie, um den Doktor zu holen. Pedro
erschien die Stunde Warten wie eine Ewigkeit, bis der Doktor ihm in die Via
Vicoletto, der wahrscheinlich dunkelsten und ärmlichsten Gasse Sienas folgte.
Auch die Mutter wartete ungeduldig und Pedro sah Hoffnung in ihren Augen, als
sie dem Doktor die Tür öffnete. Dottore Salviati fühlte den Puls und schaute
dabei auf das große Ziffernblatt seiner Armbanduhr: „Zu hoch. 120 Schläge pro
Minute“, sagte er. Er hörte den Brustkorb ab. „Die rechte Brustkorbhälfte
bewegt sich beim Atmen kaum mehr. Eine Lungenentzündung“, stellte er fest. Dann
schaute er Mutter in die Augen und sagte leise: „Die Atmung ist zu flach. Er
liegt im Sterben. Es dauert nicht mehr lange. Sucht nach einem Priester.“
    Pedro setzte sich ein letztes Mal zu
seinem Vater. Der Vater suchte die Hand von Pedro und drückte sie schwach.
„Pass auf dich auf Pedro!“, flüsterte er angestrengt. Wieder wurde Pedro von
der Mutter losgeschickt: Zuerst aber zum Prior des Stadtteils des Panthers zu
Signore Parini. Den Priester zu holen, stand erst an zweiter Stelle. Als Pedro
wieder zurück war, war sein Vater tot.
    In den nächsten zwei Tagen erschienen nach
und nach im Haus alle Frauen und einige Männer des Stadtteils. Die alten,
gebrechlichen, oft gestützt am Arm der Tochter. Die ganz jungen, hübschen. Die
mittleren Alters, oft ein oder zwei Kinder mit dabei. Alle erwiesen sie
Giuseppe die letzte Ehre, beteten einen Rosenkranz, brachten Blumen oder
segneten ihn mit Weihwasser. Einen Tag später wurde er auf dem Camposanto
beigesetzt. Camposanto bedeutet das Feld der Heiligen oder einfachausgedrückt
ein Friedhof. Pedros Vater bekam kein Grab unter der Erde. Er wurde wie alle
Toten in Italien in die Wand eingemauert.

 
    Siena, 30. Juni 1925

Via San
Quirico, 26
    Seit
dem Mittelalter existieren in Siena siebzehn Stadtteile, die Contraden. Einige
tragen lustige Tiernamen wie die Raupe, das Stachelschwein, die Schildkröte,
die Wölfin, die Schnecke, die Eule oder die Gans. Andere Stadtteile sind
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