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Am Samstag aß der Rabbi nichts

Am Samstag aß der Rabbi nichts

Titel: Am Samstag aß der Rabbi nichts
Autoren: Harry Kemelman
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Goralsky heraus. Für Anfang Oktober war der Morgen ungewöhnlich
mild, aber der alte Herr trug Mantel und Schal. Er stützte sich auf den Arm des
Chauffeurs.
    Der Rabbi eilte ihm entgegen. «Wie schön, dass Sie wieder gesund
sind, Mr. Goralsky, und zum Gottesdienst kommen … Hat es der Arzt auch
erlaubt?»
    «Ich frag nicht den Arzt, wenn mir mein Gewissen sagt, was
ich tun muss. Und heute muss ich beten. Sie haben in der Früh meinen Benjamin
geholt.» Seine Stimme zitterte, die Augen füllten sich mit Tränen.
    «Wer hat ihn geholt? Was soll das heißen? Was ist
passiert?»
    «Wir saßen noch am Frühstückstisch. Ich war noch nicht mal
richtig angezogen … Seit ich krank war, geh ich den ganzen Tag im Morgenrock
herum, wissen Sie, weil ich mich immer wieder hinlegen muss … Da kam die
Polizei. Sie waren sehr nett und höflich und auch nicht in Uniform; sie waren
angezogen wie Sie und ich. Der eine holt sein Abzeichen aus der Tasche. Der
andere zeigt eine Karte – ’ne Visitenkarte, wie ein Vertreter. Er ist der
Polizeichef. Was wünschen Sie, meine Herren?, fragt mein Benjamin. Ich denk, vielleicht
ist in der Fabrik was passiert oder mein Gärtner hat sich wieder mal besoffen.
Aber nein, sie wollen meinen Benjamin. Sie wollen ihn ausfragen. Wegen Isaac
Hirsh, von dem es heißt, er hat sich umgebracht, und jetzt ist es offenbar doch
kein Selbstmord.
    Wenn Sie Fragen stellen wollen, sagt mein Benjamin, bitte schön
– fragen Sie. Nehmen Sie Platz, machen Sie sich’s bequem und stellen Sie Ihre
Fragen. Vielleicht möchten Sie auch eine Tasse Kaffee? Nein, sie möchten keinen
Kaffee, und in meinem Haus können sie meinem Sohn keine Fragen stellen … Ist es
vielleicht nicht groß genug, das Haus? Doch, es ist groß genug, das Haus, aber
mein Benjamin muss mit ihnen aufs Revier, und dort werden sie ihn ausfragen … Rabbi,
was sind das für Fragen, die sie ihm dort stellen können und zu Hause nicht?
Und dazu haben sie’s eilig … Mein Benjamin sitzt gern gemütlich mit mir am
Tisch, und wir reden – über das Geschäft, über diesen oder jenen Kunden. Aber
nein, sie können’s kaum abwarten, bis mein Benjamin die Krawatte angezogen hat
und die Jacke, so eilig haben sie’s …»
    «Wollen Sie sagen, dass er verhaftet worden ist? Was werfen
sie ihm denn vor?»
    «Das hab ich sie auch gefragt, und mein Benjamin hat es gefragt
… Es ist keine Verhaftung, sagen sie; sie wollen ihm bloß Fragen stellen … Warum
nahmen sie ihn denn mit, wenn er nicht verhaftet ist? Ich seh keinen
Unterschied … Nein, keinen Unterschied. Ja, und da hab ich mich angezogen und
bin hergekommen.»
    Der Rabbi nahm den Arm des alten Mannes und wandte sich an
den Chauffeur: «Ich führe ihn schon …» Und dann, zu dem Alten: «Fühlen Sie
sich kräftig genug, um vorzubeten, Mr. Goralsky?»
    «Sicher. Wenn Sie mich als Vorbeter wollen …»
    «Gut. Dann kommen Sie … Hinterher können wir uns unterhalten.»
    Das Dutzend Männer, das zum Gottesdienst gekommen war,
wollte schon beginnen. Als sie aber Goralsky am Arm des Rabbi eintreten sahen,
gingen sie auf ihn zu, schüttelten ihm die Hand und beglückwünschten ihn zu
seiner Genesung. Der Rabbi half ihm aus dem Mantel und legte ihm den Gebetsschal
um die mageren Schultern; dann führte er ihn zum Vorlesepult vor dem
Thoraschrank.
    Der Alte betete mit hoher, zittriger Stimme, die sich
zuerst gelegentlich überschlug, dann aber fester wurde; und als er das Olenu anstimmte, das Schlussgebet, klang es klar und laut durch den Raum, und das
magere, kleine Männchen stand plötzlich ganz aufrecht und wirkte viel größer.
     
    «Mir ist nicht wohl bei der Sache, Rabbi», gestand
Goralsky, als sie nach dem Gottesdienst in der leeren Synagoge saßen. «Ich fahr
heute zum ersten Mal in meinem Leben am Sabbat, und trotzdem lassen Sie mich
vorbeten …»
    «Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Mr. Goralsky. Sagen
Sie – haben Sie Ihren Anwalt benachrichtigt?»
    Der Alte schüttelte den Kopf. «Das hat noch Zeit. Mein Benjamin,
der hat ja auch gemeint, ich soll den Anwalt anrufen, aber … Was kann er tun?
Wie soll er helfen? Nein, nein. Die Polizei glaubt, mein Benjamin hat was zu
tun mit dem Tod von diesem Hirsh. Deshalb haben sie ihn mitgenommen. Weil sie
einen Verdacht haben …» Er sah den Rabbi fragend an, als erwarte er
Widerspruch.
    Doch der Rabbi entgegnete nur: «Ja, das ist schon möglich.»
    «Aber es ist ausgeschlossen, Rabbi! Ich kenne meinen Sohn.
Er ist brav, er hat ein
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