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Am Helllichten Tag

Am Helllichten Tag

Titel: Am Helllichten Tag
Autoren: Simone van Der Vlugt
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gewünscht hat, er wäre ein anderer.
    Erst als er mit geballten Fäusten auf sie zukommt, erkennt sie die Gefahr. Der Gedanke an Dagmar durchzuckt sie, und sie ahnt plötzlich, wie sie sich gefühlt haben muss.
    Aber Julia duckt sich nicht und weicht auch nicht aus, sondern geht zum Gegenangriff über, so wie sie es in der Ausbildung gelernt hat.
    Als Taco ausholt, fängt sie den Hieb mit einer blitzschnellen Bewegung ab und rammt ihm das Knie in den Schritt.
    Während er sich vor Schmerzen krümmt, sagt sie leise: »Ja, ich mache Schluss. Und jetzt hau ab, aber schnell!«
    Am Donnerstagmorgen sieht sie zu, wie die Möbelpacker die letzten Sachen aus dem Haus tragen und verladen.
    Sie geht noch einmal durch die Zimmer, die ihr – so ganz ohne Möbel und persönliche Gegenstände – völlig fremd vorkommen.
    Dann zieht sie die Haustür hinter sich zu und steigt in ihr Auto.
    Der Möbelwagen fährt gerade los und stößt eine schwarze Dieselwolke aus.
    Unschlüssig sitzt sie am Steuer. Soll sie doch noch kurz bei der Klinik vorbeifahren? Der Wunsch, Sjoerd ein letztes Mal zu sehen, wird übermächtig, sodass ihre guten Vorsätze ins Wanken geraten.
    Dann schüttelt sie energisch den Kopf. Nein, sie hat ihren Entschluss getroffen, und dabei bleibt es.
    Sie lässt den Motor an, gibt Gas und fährt langsam die Koninginnelaan entlang. Am Ende biegt sie in Richtung Autobahn ab.
    Als auf der Höhe von Eindhoven ein Schild die Abzweigung zur A 58 nach Tilburg ankündigt, zögert sie einen Moment.
    Dann schaltet sie das Radio an, lauscht den Klängen eines Popsongs und fährt geradeaus weiter, nach Amersfoort.

Epilog
    Er hat oft darüber nachgedacht, ob er sie nun umgebracht hätte oder nicht. Vermutlich ja, aber leichtgefallen wäre es ihm nicht. Schwer sogar.
    Diese Erkenntnis hat er rasch wieder in die dunkelste Ecke seines Unterbewusstseins verbannt, zu den vielen anderen Dingen, mit denen er sich nicht auseinandersetzen will. Doch der monotone Gefängnisalltag, der jetzt sein Leben bestimmt, bietet wenig Ablenkung, wirft ihn immer wieder auf sich selbst zurück.
    Zwei Jahre hat er inzwischen abgesessen, zwei von insgesamt fünfzehn, und die Einsamkeit setzt ihm stärker zu als gedacht. Er darf zwar Post und Besuche empfangen, aber von seiner spärlichen Verwandtschaft hat sich bisher niemand blicken lassen, und die wenigen Freunde und Bekannten von früher scheinen ihn vergessen zu haben.
    Seine Welt endet an den Mauern des Gefängniskomplexes, sein Privatbereich ist eine Zelle mit Bett, Tisch, Stuhl, einem kleinen Fernseher und Toilette. Am Spätnachmittag wird er eingeschlossen, dann ist er auf dem engen Raum allein mit sich und seinen Gedanken.
    Jeden Tag hat er eine Stunde Hofgang auf einem von Sta cheldraht umzäunten Außengelände, wo er seine Runden dreht und raucht. Billigen Tabak, den er am Gefängniskiosk kauft. Viel kann er sich nicht leisten; bei einem Stundenlohn von vierundsechzig Cent wird man nicht reich. Trotzdem geht er, wie die anderen Häftlinge, täglich zur Arbeit und verpackt Klebstoffrollen oder baut Leuchtstoffröhren zusammen. Das ist immer noch besser, als den ganzen Tag in der Zelle zu hocken und die Zeit totzuschlagen.
    Neben dem Kiosk befindet sich die Gefängnisbibliothek, die er einmal die Woche aufsuchen darf, das Gleiche gilt für den Fitnessraum.
    Der Unterschied zu seinem früheren Leben könnte nicht größer sein. Meist gelingt es ihm, die Erinnerungen daran zu verdrängen, dennoch vergeht kein Tag, an dem die Vergangenheit nicht irgendwann hochkommt und er mit dem, was ihn letztlich hierhergebracht hat, konfrontiert ist.
    Dann denkt er unwillkürlich an Dagmar oder, besser, an Nathalie, wie er sie immer genannt hat. An seine Nathalie, die er bei sich aufgenommen und nach seinen Vorstellungen geformt hat.
    An manchen Tagen vermisst er sie morgens beim Aufwachen schmerzlich und verflucht kaum eine Stunde später den Tag, an dem er ihr begegnet ist. Ihretwegen hat er die Beherrschung verloren und Fehler gemacht, die ihm unter anderen Umständen nie passiert wären.
    Trotz aller Bitterkeit hat er einen gewissen Respekt vor ihr, denn es ist ihr gelungen, der Polizei zu entwischen. Ihm ebenfalls, samt seinem Geld. Das Geld … Dass sie ihn derart hintergangen hat, lässt den alten Zorn wieder aufflammen. Wenn sie in solch einem Moment vor ihm stünde, würde er sie ohne Skrupel umbringen. Doch eine halbe Stunde später legt sich die Wut wieder und weicht einer deprimierenden
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