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Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot
Autoren: Harry Kemelman
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üblich wie früher.» Sie setzte sich, nahm das Strickzeug auf den Schoß und erklärte ihm zur freundlichen Begleitmusik klickender Nadeln: «Es sind Weihnachtsgeschenke für Neffen und Nichten. Obwohl ich immer sehr früh damit anfange, werde ich am Ende nur knapp damit fertig. Ich hab immer drei oder vier Sachen gleichzeitig in Arbeit. Jedes ist in einem Extrabeutel an einem Platz, wo ich öfter sitze, damit ich es in der Nähe habe, wenn mir Zeit dafür bleibt. Ein Geschenk wird meistens viel mehr gewertet, wenn es selbst gemacht ist, finden Sie nicht auch?»
    Während sie strickte, erzählte sie ihm über das College. Es gab etwas unter zweitausend Studenten, und das Verhältnis Schüler zu Lehrer war zwölf zu eins. «Das heißt nun natürlich nicht, dass unsere Kurse im Durchschnitt von zwölf Teilnehmern belegt werden, weil natürlich immer mehrere unserer Lehrer in Urlaub sind und viele nur eine einzige Vorlesung halten. Die Vorlesung über Jüdische Philosophie wird etwa von fünfundzwanzig bis dreißig Studenten belegt. Halten Sie das für sehr viel? Einige der jüngeren Lehrer fühlen sich überfordert, wenn es mehr als zwanzig sind. Andererseits überschneidet sich natürlich viel, und Sie haben in einer Vorlesung nie alle beisammen, die belegt haben.»
    «Es sind doch drei Stunden in der Woche?»
    «Ja, Rabbi Small. Montags und mittwochs um neun, freitags um eins. Tut mir Leid wegen der Zeit am Freitag. Am Freitagnachmittag stehen nur zwei Vorlesungen auf dem Stundenplan, und leider trifft es gerade Ihre Vorlesung, aber wegen der Raumnot ließ es sich nicht anders einrichten.»
    «Was ist am Freitagnachmittag so schlecht?»
    Sie sah von ihrem Strickzeug auf. «Ach, wissen Sie, die jungen Leute wollen gern früh zum Wochenende aufbrechen und schwänzen am Freitag besonders oft.»
    «Solange ich um zwei Uhr fertig bin, hab ich nichts gegen den Freitag», sagte er. «Alles, was später ist, wäre schwierig, weil der Sabbat im Winter so früh einsetzt.»
    «Natürlich.» Sie nickte verständnisvoll. «Dann dürfen wir also dieses Jahr mit Ihnen rechnen, Rabbi?»
    «Ja, ich muss nur noch das Direktorium der Synagoge unterrichten.» Er sah, dass sie ein enttäuschtes Gesicht machte, und lächelte. «Es ist eine Formalität, aber ich muss es ihnen mitteilen. Natürlich, falls sie ernsten Widerspruch …»
    «Wie bald können Sie mir eine definitive Antwort geben?»
    «Sie treffen sich am Sonntagvormittag. Ich könnte Ihnen abends Bescheid geben.»
    «Gut. Wenn dann alles in Ordnung ist, könnten Sie am Montag zum Fakultätstreffen kommen und Präsident Macomber kennen lernen; und ich werde Sie mit sämtlichen Formularen ausrüsten, die Sie ausfüllen müssen.»
    Erst als er nach etwa einer Stunde wieder fortging, wurde ihm klar, dass sie ihn nicht nach seiner Qualifizierung gefragt hatte. Aber wahrscheinlich hatte Rabbi Lamden sie darüber aufgeklärt, welche akademischen Grade ein Rabbinat erforderte. Ebenfalls hatte sie nicht mit ihm über das Thema der Vorlesung diskutiert oder darüber, wie er den Unterricht gestalten wollte. Möglicherweise fühlte sie sich nicht kompetent. Andererseits hatte auch er ihr nicht viele Fragen gestellt. Er grinste vor sich hin. Vielleicht lag ihm ebenso viel am College wie dem College an ihm.
     
    Ein Streifenwagen der Polizei hupte und hielt neben ihm an. Das kantige rote Gesicht von Hugh Lanigan, dem Polizeichef von Barnard’s Crossing, tauchte im Fenster auf. «Sollen wir Sie nach Hause fahren, Rabbi?» Als der Rabbi einstieg, fuhr er fort: «Ich hab Sie aus dem Hanbury-Haus kommen sehen. Wollen Sie etwa Millie bekehren?»
    «Ach, kennen Sie sie?»
    «Wie oft muss ich Ihnen noch erklären, dass ich jeden in dieser Stadt kenne oder zumindest über ihn informiert bin», entgegnete Lanigan grinsend. «Das gehört zu meinem Beruf. Die Hanburys sind eine alte Familie aus Barnard’s Crossing, und Millie kenne ich seit ihrer Geburt.»
    «Sie scheint eine sehr nette junge Frau zu sein. Ich habe gerade überlegt, warum sie ganz allein in einem so riesigen alten Kasten lebt.»
    «Und Sie waren bei ihr, um sie das zu fragen?»
    Der Rabbi lächelte. «Nein, nein. Das war nur ein ganz privater Nebengedanke.»
    «Na, vielleicht kann ich Ihnen darauf die Antwort geben. Sie lebt dort, weil sie dort geboren ist. Es ist das Hanbury-Haus, und sie ist eine Hanbury. Es ist – ja – es ist eine Frage des Stolzes.»
    «Was spielt der Stolz dabei für eine Rolle?»
    «Es ist eine Frage des
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