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Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot
Autoren: Harry Kemelman
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schon daran gedacht, dass wir uns irgendeinen Friedensrichter suchen sollten. Ach, Roger, ich bin ganz verzweifelt!»
    Roger Fine wusste, dass er sie nun in die Arme nehmen und beruhigen sollte, aber er blieb stumm und starrte weiter seinen Schuh an. Endlich sagte er: «Meine Leute würden uns sicher nicht für richtig verheiratet halten, wenn wir zum Friedensrichter gingen.» Er ließ den Stock auf dem Teppich kreisen. «Sie kommen zur Hochzeit extra von Akron angereist. Ich hoffe, dass sie dir gefallen, wenn du sie kennen lernst, und dass sie dich mögen. Und ich hoffe, dass sie mit deiner Familie gut zurechtkommen. Natürlich sind sie ein bisschen älter als deine Leute und auch ein bisschen altmodisch. Sie gehen in eine orthodoxe Synagoge, und meine Mutter kocht zu Hause koscher. Ich glaube nicht, dass sie das Beef Stroganoff essen würden, das du bestellt hast. Aber es ist auch möglich, dass sie sich überwinden und es essen, weil sie am Haupttisch sitzen und die Hochzeit ihres Sohnes nicht verderben wollen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie nur Brötchen mit Butter und den Salat und das Kompott essen. Sie machen bestimmt kein Theater. Das liegt ihnen nicht. Aber was glaubst du, wie ich mir vorkommen würde?»
     
    Natürlich machte die Geschichte die Runde. Am Sonntag, als die Mitglieder des Direktoriums im Flur des Tempels auf den Beginn ihrer Sitzung warteten, sprachen sie darüber. Norman Phillips’ Kommentar war sehr typisch: «Das sieht unserem Rabbi ähnlich.» Er tippte sich mit dem Zeigefinger an den Kopf. «So einfallslos. Er soll ja wohl ein gebildeter Mann sein, und vermutlich ist er das auch, weil er Rabbi ist, aber sehr geschickt ist er sicher nicht.»
    «Ja, um Gottes willen, Norm, was soll er denn machen? Du weißt auch, dass unsere Regeln eine streng koschere Küche im Tempel verlangen. Und wenn du Gerichte nimmst, die nicht koscher sind, dann sind, wenn ich das richtig begriffen habe, automatisch alles Geschirr und alle Töpfe und Pfannen nicht mehr koscher. Willst du dann bei der nächsten Hochzeit oder beim nächsten Bar-Mizwa, das stattfinden soll, das ganze Geschirr neu kaufen? Es geht also nicht, dass du eine einmalige Ausnahme machen kannst. Wenn du nicht koschere Gerichte in der Küche zubereitest, dann ist’s passiert. Von da an ist die Küche nicht mehr koscher. Aber selbst wenn du eine Ausnahme machen könntest, warum gerade für Chernow?»
    «Wer sagt denn, dass wir eine Ausnahme machen sollten? Ich rede doch nur von der Art, wie der Rabbi das gemacht hat. Wir haben doch ein Hauskomitee, oder nicht? Nate Marcus ist der Vorsitzende, ja?»
    «Ja. Und?»
    «Wenn der Rabbi etwas geschickter gewesen wäre, hätte er gesagt –» und nun ahmte er die Stimme des Rabbi nach – «‹Sie müssen verstehen, Miss Chernow, dass alles, was mit der Benutzung der Einrichtungen zu tun hat, vom Hauskomitee gebilligt werden muss, und der Vorsitzende ist meines Wissens Nathaniel Marcus. Das betrifft auch jeden Restaurationsbetrieb, der bisher noch nicht an uns geliefert hat. Unsere Hausordnung verlangt, dass das Hauskomitee ihn vorher gutheißt. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Mr. Marcus anrufen und einen Termin ausmachen, wann Sie mit ihm sprechen können.›»
    «Dann hätte Nate ihr das abschlagen müssen, nicht wahr?»
    «Aber darum geht es doch. Nate ist kein Angestellter, der für ein Gehalt arbeitet und eines Tages die Stimme eines Gemeindemitglieds brauchen könnte. Auf die Art hat sich der Rabbi die Chernows zu Feinden gemacht, und das Letzte, was der Rabbi in dieser Gemeinde brauchen könnte, ist ein weiterer Feind.»
     
    Weil das Wetter so mild war, hatte der hinfällige alte Jacob Wasserman, der erste Präsident der Synagoge, den Mut gefasst, an der Sitzung teilzunehmen. Er war von seinem Freund Al Becker abgeholt worden, und obwohl sie nun abseits von den anderen standen, hatten sie das Gespräch mitgehört.
    «Ich gebe nicht viel auf einen Angeber wie Norm Phillips», stellte Becker leise grollend fest, «aber so Unrecht hat er nicht. Warum muss der Rabbi sich immer so weit vorwagen?»
    Wasserman lächelte. «Was ist ein Rabbi, Becker? Ein Rabbi ist ein Lehrer. Als ich damals in der alten Heimat in die Schule gegangen bin, war der Lehrer der Boss – nicht so wie hier. Manchmal, wenn man vielleicht frech war oder etwas Dummes sagte, bekam man eine Ohrfeige vom Lehrer. Du kannst mir glauben, ich hab als Junge oft Ohrfeigen bekommen.» In der Erinnerung vertiefte sich das
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