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Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot
Autoren: Harry Kemelman
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Lächeln. «Aber Fehler, für die man Schläge bekam, Becker, die hat man nicht noch einmal gemacht.»
    «Mag sein. Aber weißt du, was ich glaube? Ich glaube, dem Rabbi ist das inzwischen ganz schnurz.»
    Wasserman nickte traurig. «Ja, das kann auch sein.»

2
    Der Anruf kam Mitte September, gleich nach den hohen Feiertagen; er kam völlig unerwartet. Als die Stimme am Telefon sich als Bertram Lamden vorstellte, verband Rabbi Small ihn nicht sofort mit Rabbi Lamden, dem schnurrbärtigen, dunkelhäutigen jungen Mann, dem Hillel-Direktor an der Universität von Massachusetts, den er zum ersten Mal beim Treffen des Rabbinischen Rates für Groß-Boston vor ein paar Wochen getroffen hatte.
    «Ich habe in den letzten Jahren eine Vorlesung über ‹Jüdisches Denken und Jüdische Philosophie› am Windemere College hier in der Stadt gehalten», sagte Lamden, «aber in diesem Semester kann ich nicht. Ich habe mir die Freiheit genommen, Sie an meiner Stelle vorzuschlagen.»
    «Wie sind Sie denn auf mich gekommen?», fragte Rabbi Small.
    Er lachte kurz auf. «Um die Wahrheit zu sagen, Rabbi, weil der Dean des College zufällig in Ihrer Stadt wohnt. Kennen Sie sie vielleicht? Millicent Hanbury?»
    «Ich glaube, das ist hier ein bekannter Name. In der Stadt gibt es eine Hanbury Street.»
    «Ja. Also, es handelt sich um drei Wochenstunden, es ist in Boston, Sie brauchen also nicht ganz eine Stunde dorthin und bekommen dafür 3500 Dollar. Wollen Sie nicht mal anrufen?»
    Rabbi Small fragte, wie es käme, dass sie eine Vorlesung über jüdische Philosophie hätten.
    Lamden lachte. «Ach, die haben viele jüdische Studenten aus unserer Gegend und aus dem Gebiet New York/New Jersey. Windemere hat keinen großen Ruf, aber das akademische Niveau ist ordentlich.»
    «Sie ist der Dean? Der Dekan der Fakultät?»
    «Ja, richtig. Es war früher ein reines Mädchen-College, das sich aus einem Pensionat für höhere Töchter entwickelt hat, wie sie um die Jahrhundertwende in den Neu-England-Staaten große Mode waren. Seit etwa zehn Jahren haben sie Koedukation, aber die weiblichen Studierenden sind immer noch in der Überzahl. Aber vielleicht sprechen Sie erst mal mit ihr. Sie können sich ganz frei entscheiden.»
    «Pensionat für höhere Töchter», «Neu-England», «Dean» und «Jahrhundertwende» hatten in seinen Gedanken ein Bild von Millicent Hanbury heraufbeschworen. Er sah sie als hagere, lange alte Jungfer vor sich, mit sorgfältig frisierten grauen Haaren und einem Kneifer an einer Goldkette. Nachdem er sie angerufen und ihre leise Altstimme am Telefon gehört hatte, reduzierte er ihr geschätztes Alter und stellte sie sich als adrette, geschäftstüchtige, moderne Frau vor, die klassische Schneiderkostüme bevorzugte.
    Es war ein schöner Tag, und obwohl die Adresse, die sie ihm angegeben hatte, ziemlich weit entfernt war, beschloss er, zu Fuß zu gehen. Beim Anblick des alten, weiträumigen Hauses mit seinen Türmchen, Giebeln und unsinnigen Veranden mit den hundert Jahre alten Holzverzierungen, der wild wuchernden Büsche und des rissigen Betonpfades, der zu einer eichenen Haustür führte, die längst hätte gebeizt werden müssen, revidierte er die Schätzung ihres Alters abermals und machte sie wieder älter. So war es beinahe ein Schock, als eine sehr anziehende Frau von höchstens Anfang dreißig ihm die Tür öffnete und ihm fest die Hand schüttelte.
    Sie war groß und schlank, und das kurze, dunkle Haar war so sorgsam verwuschelt, wie es nur ein sehr guter Friseur fertig bringt. Mit freimütigem Blick aus den schönen grauen Augen gestand sie: «Um ehrlich zu sein: Wir sind etwas in der Bredouille, Rabbi. In den vergangenen drei Jahren hat Rabbi Lamden auf der Basis eines Jahresvertrags die Vorlesung gehalten. Wir haben einfach damit gerechnet, er würde dieses Jahr wieder zur Verfügung stehen. Aber dann hat er uns mitgeteilt, dass er eine Reisegruppe nach Israel führen würde. Oh, ich mache ihm keine Vorwürfe», fügte sie hastig hinzu. «Wir hätten uns früher bei ihm melden müssen. Im Grunde ist es mein Fehler gewesen.»
    Sie bot ihm einen Stuhl an. Auf einem anderen lag das Strickzeug, das sie aus der Hand gelegt hatte, als sie ihm die Tür öffnete. Sie wollte es forträumen, aber er sagte: «Meinetwegen brauchen Sie nicht damit aufzuhören.»
    «Ja? Macht es Ihnen wirklich nichts aus?»
    «Ich sehe gern zu, wenn eine Frau strickt. Meine Mutter strickt mit Begeisterung.»
    «Heute ist das nicht mehr so
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