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Am Anfang war die Mail

Am Anfang war die Mail

Titel: Am Anfang war die Mail
Autoren: Tanja Nasir
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Viertelstunde Fußmarsch den Hügel hinab. Aber er besuchte ohnehin nicht mehr viele Leute, seit er allein hier zurückgeblieben war. Er sah die Häuser seiner Nachbarn nur noch, wenn er morgens auf dem Weg zum Gericht an ihnen vorbeifuhr, und abends, wenn er nach Hause kam. Er vermisste auch niemanden. Außer Thea.
    Thea hatte es gehasst, so einsam zu wohnen. Wahrscheinlich war das mit ein Grund gewesen, warum sie schließlich gegangen war. Aber es hatte ja auch noch andere gegeben.
    Robert hatte die Einsamkeit immer dem Treiben in der Stadt vorgezogen. Er liebte die Ruhe. Hier konnte er manchmal – aber nur manchmal – von all den Verbrechen abschalten, mit denen er die ganze Zeit zu tun hatte. Seit Thea fort war und er auch zu Hause arbeitete, konnte er nicht einmal mehr das. Aber wenigstens spürte er hier die Schatten nicht.
    Er schloss das Fenster, drehte sich um, schaltete das Licht aus und ging zurück ins gegenüberliegende Schlafzimmer. Als er dort eintrat, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Ein kalter Lufthauch wehte ihm entgegen, der Vorhang bewegte sich leicht hin und her. Robert riss den Vorhang zur Seite. Das Fenster stand einen Spalt offen. Ein kalter Schauder überfiel ihn. Er war sich sicher, das Fenster geschlossen zu haben. Oder hatte er es nur angelehnt? War es einfach wieder aufgegangen?
    Er schloss das Fenster und sah sich um. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Robert spürte, dass er nicht allein war. Er drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und robbte sie entlang zur Tür. Im Schlafzimmer war niemand, sonst würde er ihn sehen. Wer auch immer durch sein Schlafzimmerfenster eingedrungen war, musste es bis in den Flur geschafft haben, als Robert im Arbeitszimmer gewesen war.
    Er spähte um die Ecke. Im Flur sah er niemanden. Die Tür zum Arbeitszimmer stand offen, aber das war in Ordnung. Er wusste, dass er sie offen gelassen hatte. Dort brannte kein Licht, darum konnte er nichts sehen, nicht einmal einen Schatten. Wenn wirklich ein Eindringling im Haus war, dann hatte Robert nur eine Chance, wenn er es bis zum Schreibtisch im Arbeitszimmer schaffte und noch genug Zeit hatte, die unterste Schublade zu öffnen. Er konnte nur hoffen, dass der Eindringling nicht ebenfalls im Arbeitszimmer war, denn dann wäre er verloren.
    Robert zwang sich zum Denken. Konnte sich jemand, während er im Arbeitszimmer gewesen war, auf dem Flur versteckt haben und nun in diesem Raum sein? Nein, denn das hätte in der kurzen Zeit passieren müssen, als er im Schlafzimmer gewesen war und das offene Fenster bemerkt hatte. Wäre ein Eindringling in der Zwischenzeit ins Arbeitszimmer gegangen, dann hätte Robert ihn hören müssen. Nein, wo immer sein nächtlicher Besucher auch war, falls es ihn gab, er konnte nicht im Arbeitszimmer sein. Das war Roberts Chance.
    Er nahm all seinen Mut zusammen und hechtete über den Flur. Mit einem Satz war er in dem dunklen Raum, steuerte in dem schwachen Lichtschein, der vom Schlafzimmer kam, auf seinen Schreibtisch zu, riss die unterste Schublade auf und ebenso schnell die Pistole heraus, die darin lag. Dann warf er sich zu Boden.
    Robert konnte den Lichtschein aus dem Schlafzimmer sehen, der den vorderen Teil des Arbeitszimmers erhellte. Er sah keinen Angreifer. Ebenso schnell, wie er sich niedergeworfen hatte, sprang er wieder auf und schlug auf den Lichtschalter. Mit erhobener Waffe fuhr er herum und warf beinahe gleichzeitig die Tür des Arbeitszimmers zu.
    Leer. Das Arbeitszimmer war leer. Er war ganz allein. Derjenige, der ins Haus eingedrungen war, musste sich außerhalb dieses Zimmers befinden. Er verharrte einen Moment hinter der Tür, dann hob er die Waffe und feuerte durch das Türholz. Würde der Eindringling vor der Tür stehen, wäre dies sein letzter Einbruch gewesen.
    Der Knall seines eigenen Schusses ließ ihn noch mehr zusammenzucken als zuvor das Geräusch, mit dem die Sicherung herausgeflogen war. Jedoch folgte nichts. Kein Schrei, kein Aufstöhnen, kein zu Boden Fallen. Niemand war vor dieser Tür.
    Ohne weiteres Zögern riss er die Tür wieder auf, die Pistole weiterhin im Anschlag. Er sah niemanden auf dem Flur.
    »Wer da?«, rief er hinaus. Seine Stimme zitterte. Nichts rührte sich. »Wer da?«, fragte er noch einmal. Lauter. Selbstbewusster. Stille. »Wer da?«, rief er ein drittes Mal und seine Stimme kippte.
    Immer noch keine Antwort. Wer auch immer in sein Haus eingedrungen sein mochte, der war nun Freiwild und zum Abschuss freigegeben.
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