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Am Anfang war die Mail

Am Anfang war die Mail

Titel: Am Anfang war die Mail
Autoren: Tanja Nasir
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Es war eine alte Regel aus dem Schützenverein, die sich Robert immer zu Herzen genommen hatte: Wer beim dritten »Wer da« nicht antwortete, musste damit rechnen, erschossen zu werden. Robert war das immer als eine plausible Lebensregel erschienen. Er hatte während seines Jurastudiums zwei Seminare zur frühmittelalterlichen Rechtsgeschichte besucht und noch düster eine Norm einer germanischen Rechtsordnung im Kopf behalten, die besagte, dass ein fremder Wandersmann, wenn er nachts ein fremdes Grundstück überquerte, laut rufen musste, um dem Grundstückseigentümer zu signalisieren, dass er sich nur auf Wanderschaft befand und keine bösen Absichten hegte. Unterließ er das Rufen und schlich sich wie ein Dieb über das Grundstück, musste er damit rechnen, getötet zu werden, wenn er auf dem Grund und Boden des Eigentümers angetroffen wurde.
    Robert fand es faszinierend, was für Dinge ihm durch den Kopf schossen, während er mit einer geladenen Waffe in der Hand in seinem Arbeitszimmer stand und auf den Flur hinauszielte, um einen potenziellen Einbrecher zu erschießen. Da er nicht das kleinste Geräusch hörte, beschloss er, taktisch vorzugehen. Das Schlafzimmer lag genau gegenüber auf der anderen Seite des Flurs. Es war eine Sackgasse, genau wie das Arbeitszimmer. In keinem der beiden Räume befand sich jemand außer ihm und von dort hätte der Eindringling nirgendwo hingelangen können. War er also durch das Schlafzimmerfenster gekommen, musste er es auf den Flur geschafft haben. Von dort standen ihm nur zwei Wege offen: entweder den Flur hinab zum Wohnzimmer oder ins Badezimmer, das direkt neben Schlaf- und Arbeitszimmer lag. Eine Treppe gab es nicht. Das Haus hatte keinen oberen Stock, und der Keller war nur von außen zugänglich. Robert hatte die rustikale Bauweise des Hauses immer zu schätzen gewusst. Jetzt wusste er, warum er das tat. Wohin der Einbrecher auch gegangen war: Er saß in der Falle.
    Wäre der Eindringling schlau gewesen, hätte er den langen Weg den Flur hinunter zum Wohnzimmer genommen. Denn dort gab es mehr Möglichkeiten, sich zu verstecken. Auf der anderen Seite wäre die Gefahr, dass Robert, während er am Arbeitszimmerfenster gestanden war, etwas gehört hätte, größer gewesen, wenn der nächtliche Besucher den langen Weg zum Wohnzimmer genommen hätte.
    ›Er muss also im Badezimmer sein!‹ Die Tür zum Bad stand offen, aber Robert konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Außerdem konnte durchaus auch jemand in der Ecke beim Waschbecken stehen. Dann konnte er ihn von hier aus überhaupt nicht sehen. Robert hielt den Atem an und lauschte konzentriert, in der Hoffnung, irgendetwas, und sei es nur ein leises Atmen, aus dem Badezimmer zu hören. Nichts.
    Robert spähte nach links um die Ecke zum Wohnzimmer. Es war dunkel, sowohl auf dem Flur als auch im Wohnzimmer. Er konnte ohnehin wenig erkennen, da ihm der massive Eichenschrank im Flur die Sicht versperrte. Er beschloss, es zunächst im Badezimmer zu versuchen. Er konnte es riskieren, sich ein Stück auf den Flur hinauszuwagen und dem Wohnzimmer kurzzeitig den Rücken zuzudrehen, da ihm der Flurschrank ein wenig Deckung gab. Robert trat leise, aber blitzschnell hinaus, wandte sich mit einer geschwinden Drehung mit dem Rücken zum Schrank, richtete die Waffe auf die offene Badezimmertür und feuerte zwei schnelle Schüsse hintereinander in das Dunkel.
    Unmittelbar nach dem zweiten Schuss sprang er hinein, die Waffe nur noch in der rechten Hand haltend, schlug mit der linken auf den Lichtschalter und warf mit seinem rechten Fuß die Tür zu. Er wurde eines Schattens in der Dusche gewahr und feuerte dreimal hintereinander durch die gläserne Duschtür. Das Glas zersplitterte mit einem kläglichen Klirren und gab die Sicht auf ein großes Badetuch frei, das nun drei Löcher hatte. Er drückte sich gegen die Wand, seine Sicht war vernebelt. Sein Herz pochte nun dröhnend in seinem Kopf. Niemand stand in der Dusche. Niemand stand bei der Toilette. Niemand beim Waschbecken. Das Bad war leer.
    Ihm wurde schwindlig. Sein Körper drohte, sich seiner Kontrolle zu entziehen. Ihm wurde heiß und kalt zugleich, seine Beine und seine Arme zitterten. Er spürte den Drang, ohnmächtig zu werden ebenso stark wie den Drang, sich zu übergeben. Er hatte einen schrecklichen Augenblick lang das Gefühl, seine Blase hätte ihm bereits den Dienst versagt, aber mit einem Blick an sich hinunter stellte er fest, dass nichts passiert war. Einzig seine
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