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Am Anfang war die Mail

Am Anfang war die Mail

Titel: Am Anfang war die Mail
Autoren: Tanja Nasir
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üblichen Pfade auf einem kleinen Hügel, mit Blick auf eine Lichtung. Er hatte es zufällig entdeckt, als er sich an den Truppenlagern vorbeigeschlichen hatte und vor einer Reitergruppe in die Hecken springen musste. Geschützt wurde Arusch durch zahlreiche Sträucher am unteren Rand der Anhöhe sowie von ringsum verstreuten Findlingen. Zusätzlich versperrten knorrige Bäume am flach ansteigenden Hang die Sicht auf sein Versteck. Zwischen den Felsen konnte man in Ruhe ein Lager errichten und sogar ein Feuer entzünden. Bei dem nicht enden wollenden Qualm, der über der Stadt schwebte, fiel seine Flamme nicht weiter auf. Dennoch wurde Arusch ungeduldig. Er musste sich etwas einfallen lassen, wollte er in die Stadt gelangen. Er hatte seinem Vater versprochen, nichts unversucht zu lassen.
    »Die Zeit ist reif«, hatte dieser vor Monaten am Krankenbett zu ihm gesagt. »Ich bin zu schwach und muss die Aufgabe nun an dich weiterreichen. Ich war zu meinem Bedauern nie in der Lage dazu und musste es stets hinauszögern. Krieg und Vertreibung haben mich immer wieder gehindert. Und nun schau mich an …«
    Dann hatte er Arusch das Buch des Propheten in die Hände gedrückt.
    »Ich habe dir vor Jahren die Bedeutung des Buches erläutert«, fuhr er fort. »Uns und unserer Stadt brachte es bisher nur Tod und Unheil. Die Worte darin sind mächtig. So mächtig, dass sie Städte zerstören können und es bereits getan haben. Denke nur an Edessa. Zusammen mit den sechs anderen Büchern können die Worte gar die ganze Welt vernichten. So, wie der Prophet es vorausgesagt hat. Doch nur mit diesem Buch und nur …«, er schüttelte mit dem Kopf, »du kennst die Prophezeiung. Ich habe sie dir oft genug erzählt.« Anschließend hatte er Arusch von seinem Bett weggeschoben. »Geh nun, denn ich weiß nicht, wie lange wir es noch schaffen, unseren Aufenthaltsort vor unseren Verfolgern zu verheimlichen. Geh und tue das, wozu mir stets der Mut gefehlt hat.«
    Zunächst hatte Arusch Bedenken geäußert, doch er wollte sich der Herausforderung stellen. »Ich werde dich nicht enttäuschen, Vater!«
    Durch gellende Schreie wurde Arusch aus seinen Gedanken gerissen. Die schrillen Laute kamen vom Waldweg herauf. Vorsichtig robbte er auf allen Vieren nach vorne und spähte auf die Lichtung. Fünf Ritter mit gezogenem Schwert trieben zwei Männer und eine Frau vor sich her, deren Hände sie ihnen auf den Rücken gebunden hatten. Die Soldaten trugen dunkelrote Waffenröcke und abgewetzte beige Beinlinge, die mit Blutspritzern übersät waren. Die Gesichtszüge der Ritter waren kantig, und ihre Augen wirkten auf Arusch dunkel. Auf dem Gewand zweier Ritter konnte er ein goldenes Kreuz erkennen, und die Männer sprachen eine Sprache, die er nicht verstand. Er fand, dass es nasal klang.
    Einer der Gefangenen, ein rundlicher kleiner Mann, redete angsterfüllt auf die fünf Antreiber ein. Sein Gesicht war blutverschmiert, und am gesamten Körper erkannte man offene Wunden. Das Oberhemd war zerrissen und von Fackelstößen versengt. Auch seine Mitgefangenen boten ein ähnlich erbärmliches Bild. Der schluchzenden Frau hatte man den Großteil ihrer Haare abgeschnitten. Aus der Ferne konnte man kaum noch erkennen, ob sie nun blond oder schwarzhaarig gewesen war. Den Dritten im Bunde zerrten die Männer an einem Seil hinter sich her. Aus seinen Augenhöhlen quoll ein Rinnsal von Blut und Eiter. Arusch musste genauer hinschauen, um festzustellen, dass diesem bereits die Augen herausgestochen wurden.
    »Versteht ihr denn nicht?«, schrie der erste Häftling. »Ich kann euch zu versteckten Schätzen in der Stadt führen. Schätze, die ihr mit keinem teilen müsst. Ich kenne geheime Plätze. Ihr werdet durch mich reich werden! So hört mich doch!«
    Doch entweder konnten die Ritter ihn nicht verstehen oder sie wollten es nicht. Sie trieben die Gefesselten laut grölend voran. Ihre Absicht schien eindeutig.
    ›Das könnte deine Chance sein‹, dachte Arusch und überlegte, was er tun sollte.
    Lange genug hatte er auf eine Möglichkeit gewartet, um in die Stadt zu gelangen. Mit fünf Männern, die nicht mit einem Angriff rechneten, konnte er es aufnehmen. Schließlich würde sein Versteck nicht ewig unentdeckt bleiben. Ohne weiter nachzudenken, rutschte er zwischen den Felsen zurück und griff sich sein Schwert sowie den Bogen. Aus dem Köcher nahm er lediglich einen einzigen Pfeil. Den Rest wollte er mit dem Schwert entscheiden. Sein Lederbündel verbarg er noch
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