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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen
Autoren: Diana Evans
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nicht.«
    Lucas trat auf den Bug. Wolken verhüllten die Mittagssonne, es war warm. Scarface räuberte durch den ruhigen Track mit dem Sample des Commodores-Klassikers »Easy (Like Sunday Morning)«, aber Lucas war rastlos. Selbst hier draußen fühlte er sich beengt. Der Kirschholzschrank rappelte in seinem Kopf. Lucas hörte sein Knarren, roch sein bitteres Aroma. Am Vortag war er wieder in den Buchladen gegangen und hatte grotesk lange auf den Eintrag über Antoney Matheus gestarrt, bis er Gesichter in den Schwüngen der Buchstaben sah. Er wollte nicht glauben, dass sein Vater böse war. Er hatte sich niemals der allgemeinen Meinung anschließen können, dass Antoney ein übler Mann gewesen sei, trinkfreudig, gleichgültig, so die subtilen Vorwürfe seiner Großmutter und Denises seltene Echos darauf. »Er war einfach nur mies, klar?«, hatte sie einmal in einem hitzigen Moment geäußert, als sie noch Kinder waren. »Nach Mums Tod hat er sich überhaupt nicht um uns gekümmert. Wenn du mich fragst, wir hatten nie einen Vater.« Das war zu leicht, zu endgültig. Er wollte glauben, dass Antoney gut war.
    An Wochentagen, vor der Schule, hatte Lucas oft morgens auf dem Bug gestanden und beobachtet, wie ein großer, breitschultriger Mann die Ladbroke Grove entlangging, mit einem kleinen Jungen an der Hand. Lucas hatte die beiden nie vergessen. Der Junge trug Schuluniform und Ranzen. Sie hatten sich ähnlich gesehen, nicht nur im Gesicht. Obwohl der Junge rasche, zappelige Schritte machte und dabei gelegentlich hüpfte und der Gang des Mannes gelassen und ausholend war, gab es einen Punkt, an dem sie sich trafen und spiegelten. Sie waren wie zwei Haltestellen auf ein und derselben Strecke. Der Mann war eine stolze Erscheinung und trug lange, ordentliche Dreadlocks, nach hinten gebunden. Er gab sich an den Jungen weiter, der schon die Anfänge dieses Stolzes in sich trug, so wie er ständig zu seinem Vater aufsah. Lucas schaute ihnen immer nach, bis er sie aus den Augen verlor, und malte sich aus, er wäre an der Stelle des Jungen. Es war nur schwer vorstellbar, dass der Mann seinen Jungen nicht wollte, dass es eine Situation geben könnte, in der er nicht auf ihn aufpassen würde, es sei denn, er würde irgendwie daran gehindert.
    In seiner persönlichen Schublade im Schlafzimmer, wo er die Fotografie des tanzenden Antoney aufbewahrte, lag auch ein Geschenk, ein Spielzeugbus aus Holz, den er als Baby bekommen hatte. Es war ein Geschenk seines Vaters. Dass Toreth es an Lucas weitergereicht hatte, war der einzige Moment, in dem sie Antoney warmherzig sein ließ. Deshalb wollte Lucas glauben.
    Am Ufer, am Rand von Denises Garten, saß wie üblich die gelbäugige Katze, die irgendwo in der Nachbarschaft lebte. Die Katze und Lucas waren aneinander gewöhnt, sie einte ein Leben ohne Dringlichkeit. Sie musterten sich, während sich die Sonne hinter den Wolken hervormühte. Dann schaute Lucas nach Süden, vorbei am dunklen Rund der Gaswerke, über die große Freifläche der Schienen Richtung Paddington, hinüber zu den beiden Wohnsilos am Horizont, an denen sein Vater in den 1960er-Jahren mitgebaut hatte. Dieses kleine Kapitel Familiengeschichte war Lucas nicht bekannt, doch er stellte sich oft vor, in einem der Türme zu wohnen. Sollte er je dem Wasser entkommen, dann würde er ganz nach oben ziehen. Näher an Lucas, quer über den Grand Union Canal, spannte sich die Brücke der Ladbroke Grove, die am Ende eines jeden Sommers den funkelnden Zug der Karnevalsköniginnen und -könige trug. Davor lag Denises Garten, eine gepflegte Entenrast gleich neben dem Boot am abschüssigen Ufer. Hier wuchsen Tulpen, ihr Blumenemblem, Rittersporn und Rosen. Ein launischer Birnenbaum stand vor der rückwärtigen Mauer, dem hohen, kalten, spitzenbewehrten Wall, der bis ans andere Ende des Friedhofs reichte.
    Und dort befand sich auch das bedeutendste aller Andenken. Auf diesen dreiundzwanzig Hektar hügeligen Grunds, inmitten unzähliger Gebeine und Gräber, die man 1833 angelegt hatte, um Londons überfüllte Friedhöfe zu entlasten, hier, auf der anderen Seite der Mauer, hinter der Lucas und Denise saßen, schliefen, stritten, gärtnerten und umständliche Halbbäder nahmen, die von einer Zisterne ermöglicht wurden, die sie jeden Monat an dem Wasserhahn am Uferweg neu auffüllen mussten, dort lag ihre Mutter, ihre tote Mutter, unter einem Kalkstein inmitten einer Gruppe anderer Gräber, die an die Familiengruft äthiopischer Monarchen
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