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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen
Autoren: Diana Evans
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solle nach einem Bild seiner Zukunft Ausschau halten. Lucas stand auf. Er fixierte die Kurve und wartete und kam sich dabei unglaublich blöd vor. Was sollte er schon sehen, außer Wasser, dem Uferweg und einer Brücke. Aber als er es mit etwas mehr Ernst versuchte, sich auf die Sache einließ, als er sich vorstellte, The Wonder würde in seinem Dashiki und seinen unglaublich weißen Turnschuhen hinter ihm stehen, da sah er etwas ganz anderes. Einen Zug. Einen großen Fernreisezug, der auf dem Wasser hielt und für ihn die Türen öffnete. Der Wind blies in die Richtung. Die Silver, apathisch und ankerlos, trieb sanft dorthin.
    Und Lucas? Lucas vertäute das Boot, nahm seine Sachen und fuhr mit dem 52er zur Victoria Station.
    Sein Ziel war Penzance, der exotischste Ort, den der Fahrplan zu bieten hatte. Es war sehr aufregend, als der Zug aus dem Bahnhof herausfuhr. Wenn Jake ihn so sehen könnte! Sie überquerten die Themse. Er sah die Houses of Parliament und das Hauptquartier des MI 6. Um den Bahnhof Loughborough Junction herum wuchsen immer mehr Sozialbauten und Wohnsilos aus dem Boden. Dann öffnete sich die Landschaft und wurde zu stetem Grasland, durchsetzt von Bauernhöfen, Wäldern, Lagerhäusern und Autobahnstrecken. Nach einigen Stunden gelangte Lucas an den Punkt, an dem er bereit war zu lesen.
    Riley hatte ihm das abschließende Kapitel geschickt, begleitet von einem Entschuldigungsschreiben für seinen, wie er es nun nannte, »unsensiblen und vermessenen Umgang mit der Geschichte«. Riley teilte ihm bei der Gelegenheit ebenfalls mit, dass er sich entschlossen habe, das Buch nicht zu veröffentlichen, er aber hoffe, dass es für Lucas vielleicht einen Wert habe, und im Übrigen möchten er und seine Schwester damit nach Belieben verfahren.
    Es war nicht zu Ende, solange die Geschichte noch nicht zu Ende war. Lucas las von den Anstrengungen seines Vaters, seine Mutter zurückzuerobern, seinem Bemühen, eine Beziehung zu seinen Kindern aufzubauen. Aber Carla verstarb, Antoney zog wieder zu Florence, und später kehrten sie gemeinsam nach Jamaika zurück. Als Florence der Mühe und Scham nicht mehr gewachsen war, sich um ihn zu kümmern, brachte sie ihn nach Beaumont. Lucas versank in den Worten. Er las den Schluss, ohne von der Seite aufzusehen. Er las ihn nur ein Mal.
    Antoney betrat die Kirche von ihrer Rückseite her, ein Sprung über den Zaun, die Regenrinne hinunter, auf dem gleichen Weg, auf dem er das Gebäude nach seiner letzten Unterhaltung mit Oscar Day verlassen hatte. Er war nun Witwer. Er hatte seine Kinder verloren. Die Kirche lockte mit Trost und Frieden. Sein Weg dorthin hatte viele Stunden gedauert, er war wieder geschwebt, auch wenn er selbst es nicht so empfunden hatte. Sein Hemd war währenddessen zu Boden geglitten; Schlüssel und Münzen waren ebenfalls aus den Taschen gefallen, dann hatte er sich gebeugt und sich seiner Schuhe entledigt.
    Die Kirche war leer. Er riss die Bretter von der Hintertür und drang mit blutigen Händen in die Eingangshalle ein. Er hörte ein fernes Marschieren. Als er das Studio betrat, fühlten sich seine Füße an, als gehörten sie nicht länger zu ihm.
    Der Abend war hereingebrochen. Es war sehr friedlich. Das Mondlicht fiel durch die hohen Fenster. Als er sich im Spiegel erblickte, wandte er sich rasch ab und entdeckte in einer dunklen Ecke Oscars Seitpferde und Schlafbrett. Da überkam ihn der Drang, sich niederzulegen und auszuruhen. Das Marschieren wich ein wenig zurück, als er sich das Lager bereitete, die Seitpferde im richtigen Abstand zueinander stellte und das Brett darauf legte. Es war sogar recht bequem. Er fand die Ruhe, die er gesucht hatte.
    Seine Träume tanzten mit ihm, führten ihn zurück in die Zeit, als sie hier alle gemeinsam getanzt hatten – Carla, Ekow, Simone, sie alle. Sie liefen umher. Sie wollten sehen, wer am höchsten springen konnte. Oscar warf seinen Pullover auf den Boden. Nein nein nein , er ist höhergestiegen! Es war ein toller Abend. Die Studiotür ging auf, und herein kam Nijinsky höchstselbst. Er hustete laut. Auf das Husten folgte ein Schaben, ein Stuhl, ganz nahe bei Antoneys Ruhelager. »Wer ist da? Wer ist da bei mir?«, fragte er. Stoff rauschte, es klang, als zöge jemand den Mantel aus. Als Antoney die Augen öffnete, lachte die Gestalt leise.
    Er war klein und plump, weißhaarig, trug einen schäbigen Anzug, sein Mantel lag auf dem Schoß. Ein Strahlen ging von ihm aus. Antoney setzte sich auf, er erkannte
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