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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen
Autoren: Diana Evans
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auch deren jährliche Diners im Dorchester Hotel, gleich bei dem Baum, der immer Weihnachten hatte.
    Ohne sie verlor das Boot an Gewicht. Fort waren die Eimer, Pflanzschaufeln, Rechen und Tüten voller Kompost. Auch der Kirschholzschrank war nun leer. Lucas hatte seinen Inhalt noch in der Nacht, in der er Rileys Arbeitszimmer verwüstet hatte, im Kanal versenkt. Er hatte nur weniges zur Erinnerung an jene Zeit behalten, einige Fotografien, die Kassette mit der Stimme seines Vaters und den Spielzeugbus. Die Silver neigte sich nicht mehr zum Ufer hin.
    Denise gab ihm genügend Geld, um einige Monate zu überbrücken. Danach war er auf sich gestellt. »Mach’s gut«, sagte sie. »Du kannst jederzeit vorbeikommen.« In dem Moment, wo jemand fortgeht, kann man ihn als Ganzes sehen, als Summe seines Lebens, seiner Erfahrungen. Sie ging fort, den Uferweg hinauf. »Denise«, rief er ihr nach, als sie fast schon am Tor war – er war ihrer Bitte beim Abschied, sich um den Garten zu kümmern, ausgewichen. »Ich werd hin und wieder mal gießen. Lass es dir gut gehen, okay?«
    Am nächsten Tag trieb er durch den Notting Hill Carnival. Die Musik tauchte schon früh am Morgen mit einem fernen Wispern auf, als sich die Maskenträger an ihren Treffpunkten sammelten. Sie kroch durch Dielen, durch Fensterscheiben, unter Haustüren hindurch. Zur Mittagszeit hatte sie das Grove fest im Griff, es wummerte unter den Bässen des Soca. Pastetchengeruch lag in der Luft, dazu der hölzerne Rauch der Jerk-Pfannen, gegrillter Fisch und gebratene Nudeln. Über den Kanal paradierte ein mannshoher Stannioldrachen mit goldener Mähne, samt einem Geleit aus blau-weißem Meeresvolk und befederten Menschen, die als Feuer verkleidet waren. Kinder kamen heraus, mit ihren Müttern und Brüdern und lippenstiftbemalten Tanten, die Glitter trugen. Ein Schwarm aus Batikschmetterlingen flatterte vorbei. Dann kam der Sambawagen, gefolgt von Reihen glitzernder Bikinis. Überall entlang
der drei Meilen, an denen die Polizei die Straßen mit Absperrungen blockiert hatte und mit Feiernden diskutierte, die trotzdem unbedingt hindurchgehen wollten, füllten sich die Balkone. Die Zuschauer sahen auf wogende Menschenwirbel, auf Trinidad und St. Vincent; die silberne Steel-Musik schepperte bis hinauf zu den Dächern. Lucas verzichtete dieses Jahr auf seinen Stammplatz in der Aufstellung der Festwagen.
    (Die Aufstellung ist folgendermaßen geordnet: Vorne gehen die Maskenträger, die meisten in Hotpants, auf dem Rücken Flügel oder andere Objekte, in der Hand Flaschen mit Durchhalte-Flüssigkeit. Hinter ihnen kommen die T-Shirt-Träger, sie gehören zum Wagen, für sie ist der Karneval eine sehr ernste Sache. Die Gruppe am Schluss ist nach Belieben gekleidet. Ihr fährt die Musik schon nicht mehr bis in die Glieder, sie ist zu weit entfernt; wer hier mitgeht, kann sich unterhalten, zu einem Imbissstand oder anderen Wagen abdriften – und zu dieser Gruppe gehört Lucas sonst immer. Für alle Genannten aber gilt, wer klug ist, trägt Turnschuhe.)
    Dieses Jahr sah sich Lucas die Prozession vom Straßenrand aus an, wie ein gewöhnlicher Zuschauer. Es zog ihn auch nicht zu Crows Soundmaschine in der Einfahrt von Sainsbury’s, er trieb durch Massen von Leibern und quetschte sich durch Engpässe hindurch. An der Kreuzung Portobello und Golborne blieb er stehen, aß ein Pastetchen zu Reggae und Sizzla. Das Pastetchen war gut, alles stimmte, es war warm und weich, aber neu war es nicht.
    Es dauerte zwei Wochen, bis er endlich ein neues Ruder fand. Nachdem ihm die verwegene Idee erst einmal gekommen war, dass die Silver mit ihrer neuen Leichtigkeit und Lage lossegeln könnte, ließ ihn die Sehnsucht, das Ufer zu verlassen, nicht mehr los. Er öffnete die Falltür im Heck, vor der er sich, wie vor den Drachen neben den Kabinentüren, als Kind entsetzlich gefürchtet hatte. Dort unten hatten Freddy Krueger und Dracula und Jim Jones auf ihn gelauert. Nach etwas WD -40-Öl ging die Falltür widerwillig und mit einem zähen, lauten Knarren auf. Dahinter erschienen eine alte, geschwärzte Maschine – der Motor – und einer von Antoneys Schlangenlederschuhen. Der Motor und der Schuh waren widersprüchliche Gegenstände. Einer wies voraus, der andere zurück. Lucas warf den Schuh in den Kanal, hinunter zu den übrigen Gegenständen aus dem Midnight Ballet Museum. Dann ging er in die Bibliothek. Er musste noch sehr viel lernen. Das Ruder, mit dem das Boot gesteuert wurde, bekam er
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