Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen
Autoren: Diana Evans
Vom Netzwerk:
in einem Bootsgeschäft. Mit dem Motor war es komplizierter, weil er so alt war.
    Schließlich trieb Lucas in Chesham einen älteren Wasserzigeuner auf, der gebrauchte Bootsteile sammelte und restaurierte. In seinem Besitz befand sich auch ein Motor, wie Lucas ihn brauchte. »Wie lange liegt das Boot da schon?«, fragte er. »Hast du den Boden je schwärzen lassen?«
    »Was heißt schwärzen?«, fragte Lucas.
    Der alte Mann schnaufte. »Man sollte ein Boot hin und wieder auf ’nen Abstellplatz bringen und den Rumpf mit Bitumen, dem schwarzen Zeug also, versiegeln. Sollte man alle fünf Jahre mal tun – an dem Ding nagen doch inzwischen Generationen von Algen.«
    Die nächste Werft lag in Southall. Ein Freund von Jake, der Mechaniker war, baute den neuen Motor gegen eine steuerumgehende Barzahlung ein, und Lucas tauschte mit seinem frisch erworbenen Wissen das Ruder aus. Ende Oktober betätigte ein vor Spannung ganz kribbeliger Lucas das Zündschloss, um zur Werft zu schippern. Natürlich rührte sich nichts. Lucas fuhr wieder nach Chesham.
    »Das wär ja sehr großes Glück gewesen«, sagte der alte Mann. »Die Schiffsschraube ist wahrscheinlich auch hin.« Er ließ sich, gegen Bezahlung, überzeugen, mal vorbeizukommen und sich die Sache anzusehen. Ein Kran, vier Männer und ein ordentlicher Batzen von Denises Notgroschen waren nötig, um das Boot auf den Uferweg zu heben. Der Garten überlebte es nicht. Die Schiffsschraube war tatsächlich hin, der Rumpf rostig und voller Löcher. »Ein Wunder, dass das Ding nicht gesunken ist!«, rief der alte Mann. Sie versuchten ihr Glück, vielleicht geschahen ja noch mehr Wunder, und so half er Lucas, die Löcher zu füllen, dann reparierte er die Schraube. Lucas schwärzte den Unterboden, und wo er einmal dabei war, gestaltete er auch gleich das Äußere und Innere neu. Er entschied sich für Orangetöne und Pfauenblau, und als die Silver einige Wochen später wieder aufs Wasser gelassen wurde, sah sie aus, als wäre sie erst gestern losgeschippert. Lucas’ Helfer testete alles. Der Motor summte los, und die Schiffsschraube drehte sich.
    Es würde also eine Winterreise. Er sagte Denise ein gespieltes Auf Wiedersehen. Er wollte sie von seinem ersten Liegeplatz aus anrufen und ihr da erst sagen, wo er war, damit sie nicht noch in letzter Minute seine Pläne durchkreuzte. Denn die sahen vor, aufs Geratewohl loszusegeln und sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen. An einem Montagmorgen im Dezember, die Vorräte waren an Bord – Essenskonserven, warme Kleidung –, legte er ein Scarface-Album auf und löste die Taue. Dann nahm er seinen Platz am Ruder ein. Es würde eine Weile dauern, bis er sich daran gewöhnt hätte, von hinten zu steuern, aber der alte Mann hatte ihm geraten, er solle immer nur weit nach vorne schauen und den Rest dem gesunden Menschenverstand überlassen, dann würde das schon. Als Lucas den Motor startete und sich die Schiffsschraube zu drehen begann, sah er auf einmal Antoney vor sich. Er saß in dem erfundenen Bus auf der Bergstraße von Guantánamo nach Baracoa. Lucas würde diese Straße vermutlich nie sehen. Er wollte diese Straße nicht sehen. Er wollte seine eigene Straße finden. Er würde einen Schritt in eine bestimmte Richtung wagen und darauf vertrauen, dass er geleitet wurde.
    Erst nach einigen Minuten fiel ihm auf, dass er nicht vom Fleck kam. Die Silver hatte sich auf die Brücke zubewegt, jetzt aber trieb sie mit brausendem Motor auf der Stelle. Lucas wurde unruhig. Er eilte zurück auf den Bug, durch Schlafzimmerluke und Kabine, um die Schiffsschraube zu inspizieren. Sie wurde immer langsamer. Sie wurde nicht mehr vom Motor getrieben. Ein letztes Mal drehte sie sich vor seinen Augen, unter seinem verzweifelten Glotzen. Dann ein Schauder, ein hässlicher Klang. Die Schraube löste sich und verschwand in den Tiefen. »Oh, Scheiße, nein!«
    Er sank auf den Bug. Die gelbäugige Katze ließ sich am Ufer nieder. Tauben zogen in einem dunklen Pfeil über ihn hinweg, am anderen Ufer zankte sich eine Entenfamilie. »Ich will doch bloß los!«, erklärte er ihnen allen. »Warum klappt das denn nicht?« Vor ihm erstreckte sich höhnisch die nasse Straße bis zur ersten Windung, dahinter lag – die Freiheit. Und während er, aller Hoffnung beraubt, auf diese erste, ferne Windung schaute, kam ihm die Mole in den Sinn, die Mole, die sich von der Privatbucht der Baronesse aus in die See erstreckte, die Mole, auf der Antoney einst gesagt wurde, er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher