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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen
Autoren: Diana Evans
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erwiderte, das seien gar nicht die besten Plätze. »Ein paar Reihen weiter hinten ist es besser. Von da bekommt man viel mehr mit. Richtig gut ist ein Balkon. Von da kannst du in die Seiten sehen, die Kulissen, und wenn du den Hals ganz lang machst, kannst du ihre Gesichter sehen, wenn sie auf den Auftritt warten. Das ist faszinierend.«
    »Wo hast du so was gesehen?«, fragte Antoney.
    Mr. Rogers tippte sich ans Kinn und versuchte, sich zu erinnern. »Ach, das ist lange her, ich glaub, in Trinidad irgendwo.«
    Antoney war eigentlich kein gesprächiges Kind. Er hatte sich bereits entschieden, müsste er je zwischen Körper und Stimme wählen, er würde den Körper wählen. Aber in Gegenwart seines Vaters war er oft gesprächig.
    »An wie vielen Orten warst du, Mr. Rogers?«
    An vielen, er hatte sie nicht gezählt. Amerika, Mexiko, und Kuba natürlich. Mr. Rogers war auf Kuba geboren und mit seiner Tante nach Jamaika gekommen, als er noch klein war. Seine Mutter war in der Heimat geblieben. Sie lebte in Baracoa, einer Stadt im Osten. »Wenn man zu lang an einem Ort bleibt, dann vertrocknet man«, sagte er zu Antoney. »Ab und zu braucht man ein Stück Meer zwischen den Zeiten, den Jahren und den Monaten.«
    Sie naschten aus einem Beutel voll holziger Number-11-Mangos. Auf der einen Seite fegte der Wind zwei streunende Geißböcke vor sich her. Auf der anderen legte das Kliff den Himmel frei.
    »Mr. Rogers?«, fragte Antoney ohne jede Scheu. »Wirst du öfter bei uns sein, wenn du mit Mama verheiratet bist?«
    »Ich denke schon«, sagte sein Vater. Antoneys Beine schwangen bei dieser Antwort höher.
    »Und wenn ihr verheiratet seid, was passiert, wenn du das Stück Meer brauchst?«
    Mr. Rogers wurde nachdenklich. Langwierig pulte er einen Mangofaden aus den Zähnen. Zwischen den Schneidezähnen war eine große Lücke, wie auch bei Florence. Das, so fand Antoney, war der Beweis, dass seine Eltern füreinander geschaffen waren.
    »Ich seh das so«, sagte sein Vater nach einiger Zeit. »Die See muss dir immer offenstehen, egal, wie die Dinge liegen. Wenn es in deiner Natur liegt zu schwimmen, dann musst du schwimmen, sonst wirst du krank. Deine Mutter weiß, was ich meine. Die Ehe ist kein Gefängnis, Sohn.«
    »Nein«, stimmte Antoney zu. Er wusste nämlich, wie ein Gefängnis aussah. Es hatte kaum Fenster und war aus unbemalten Ziegeln gebaut, und das war ganz sicher nicht dasselbe wie die Ehe. »Du hast recht«, sagte er.
    Am Steuer des Goldtooth-Busses saß ein gewisser Juicy. Sein rechter Arm hing aus dem offenen Fenster, und er lehnte sich mit Wonne in jede gefährliche Neigung entlang der gewundenen Straße. Niemand hatte ihn je gebeten, das Tempo zu drosseln. Das war zwecklos. Er war der Herrscher des Goldtooth. Er setzte zur langen Abwärtsfahrt nach Kingston an, wo sich die Tänzer schon in den warmen Hinterzimmern des Carib bereit machten.
    Aber vielleicht hatte es früher noch begonnen. Vielleicht hatte es, wie so oft bei Träumen, im Schlaf begonnen, in einer geheimnisvollen Stunde tiefer Nacht.
    Zwei Jahre vor Katherine hatte Antoney nämlich geträumt, dass er fliegen konnte. Wahrscheinlich war es ein sehr gewöhnlicher Flugtraum – plötzlich und wundersamerweise schwebt man –, nicht anders als andere Flugträume. Aber es ist die Wirkung, die der Flugtraum auf den Träumenden hat, die den einen vom anderen unterscheidet. Antoney wurde nicht am folgenden Morgen wach und begann seinen Tag, als wäre nichts geschehen. Er konnte den Traum, das Gefühl, nicht vergessen.
    Es war so einfach. Er brauchte keine Flügel. Er stand da, in der wandelbaren Wogenwelt der Träume, im Wohnzimmer ihres kleinen, mandarinenfarbigen Hauses in Annotto Bay, St. Mary, und hörte eine Stimme, keine richtige Stimme, eher etwas, das sich in seinem Kopf niederließ. Es sagte: Na los, versuchen wir’s. Er streckte die Arme aus und wedelte mit den Händen. Dann schon mit mehr Kraft, er verspürte ein flatteriges Gefühl an den Fußsohlen, und tatsächlich ging es hinauf. Er hatte schon recht starke Arme und trudelte vergnügt unter der Zimmerdecke herum. Er lachte, er sagte zu der Stimme, die ihm half: Ich fliege! Ich fliege! Sieh nur, ich fliege!
    Der Traum kehrte wieder und nahm an Gestalt und Größe zu. Antoney stieg hoch über das Haus, höher als die Palmenspitzen, so hoch er wollte, so lange er wollte, drehen wenden gleiten tauchen, die Arme ausgestreckt, der Körper vorgeneigt, wie ein richtiges Himmelswesen. Es war
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